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Mein Kind hält sich nicht an Vereinbarungen

von Mag. Ines Berger

„Das darf doch nicht wahr sein! Jedes Mal wieder! Wozu haben wir Vereinbarungen getroffen und du hältst dich NIE daran! So geht das nicht weiter! Ich muss mich auf dich verlassen können! So kann ich dir nicht vertrauen! Ich versteh das nicht! Wir haben uns doch hingesetzt und du hast zugestimmt. Du hast sogar unseren Vertrag unterschrieben! Wieso hältst du die Vereinbarungen nicht ein? Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt!“

Solche oder ähnliche „Gespräche“ finden in vielen Familien mit Jugendlichen leider häufig statt. Eltern sind dabei oft verzweifelt, dass sie ihrem Kind nicht (mehr) vertrauen können, dass sie sich nicht darauf verlassen können, dass Vereinbarungen auch eingehalten werden. Und den Jugendlichen wird meist die „Schuld“ dafür gegeben. Doch die Verantwortung im Umgang mit dieser Art von Konflikten liegt hier bei den Erwachsenen, denn statt Schuld zu zuweisen, könnten sie auch nachfragen, WARUM sich die Jugendlichen denn nicht an Vereinbarungen halten. Denn jedes Verhalten hat seinen Grund. Daher ist eine Haltung der Neugier, des Interesses, der Offenheit und der Lösungsorientierung der Erwachsenen hilfreicher als Schuldzuschreibungen und Konsequenzen.

Wie können solche Themen aber nun möglichst konfliktarm „gelöst“ werden? Dafür gibt es kein Patentrezept, aber ich möchte gerne ein paar Gedanken und Ideen dazu aufzeigen, die helfen können, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und neue Lösungsstrategien zu entwickeln, damit sich Jugendliche und Eltern gesehen und ernst genommen fühlen können.

„WIR haben eine Vereinbarung getroffen!“
Wenn Eltern mit ihren jugendlichen Kindern in meine Praxis kommen, um herauszufinden, warum sich ihr Kind nicht an Vereinbarungen hält, dann lautet meine erste Frage: „WIE ist denn diese Vereinbarung zustande gekommen?“  Dabei stellt sich in den meisten Gesprächen heraus, dass die ELTERN festgelegt haben, was die Jugendlichen zu tun, zu lassen haben oder wann sie zu Hause sein müssen. Diese Vorgangsweise hat mit einer Vereinbarung nichts zu tun. Diese „Vereinbarungen“ werden als BEFEHLE von den Jugendlichen wahrgenommen. „Aber du hast doch zugestimmt und sogar unterschrieben!“, lautete der Einwand einer Mutter, die betroffen erkannt hatte, dass die Vereinbarung tatsächlich einer Befehlsausgabe gleichgekommen war. „Ja, klar! Weil ich keine andere Chance gesehen hatte. Ich habe ein paar Mal versucht, dir zu sagen, dass es für mich so nicht passt. Doch du wolltest mir nicht zuhören. Da wollte ich nur noch raus aus der Situation und hab den blöden Zettel unterschrieben!“, so die Aussage eines jungen Mannes, der sich gemeinsam mit seiner Mutter auf einen Prozess einließ, um neue Wege in der Mutter-Sohn-Beziehung gehen zu können.

Eltern der heutigen Zeit sind meist sehr daran interessiert, eine gute Beziehung mit ihren Kindern zu leben und sie sprechen viel mit ihnen. Doch dabei wird manchmal übersehen, dass die Gespräche oft Monologen gleichen: Eltern argumentieren, erklären und begründen, warum dieses oder jenes zu geschehen hat. Selten wird den Jugendlichen dabei WIRKLICH zugehört. Dabei ist dieses „GEHÖRT WERDEN“ ein menschliches Grundbedürfnis. Gehört werden heißt aber noch lange nicht, dass damit automatisch geschehen muss, was sich die Jugendlichen wünschen. Gehört werden ist ein erster Schritt in Richtung einer WIRKLICHEN Vereinbarung. BEIDE Seiten werden ernst genommen. ALLE Interessen werden auf den Tisch gelegt und dann wird darüber nachgedacht und verhandelt, welche Vereinbarung für ALLE passen könnte. Es sind dann oft Kompromisse, die dabei (meist von allen Seiten) eingegangen werden. Dennoch muss in diesem Prozess die Anpassungsleistung von den Erwachsenen erbracht werden, wenn es ihnen ein Bedürfnis ist, eine gute Beziehung zu ihrem Kind zu haben bzw. wenn sie vermeiden wollen, dass ihre Kinder beginnen ein Doppelleben zu führen oder zu lügen. „Kinder lügen nur, wenn die Erwachsenen die Wahrheit nicht aushalten,“ lautet eine Aussage Jesper Juuls, die für viele Eltern meist sehr schmerzlich ist. Doch wenn man sich als Erwachsener an seine eigene Teenagerzeit zurückerinnert, dann werden die meisten feststellen, dass Verbote und Befehle schon damals nicht funktioniert hatten, wenn denn nicht die Angst vor den Folgen so groß war, dass der/die Jugendliche seine Integrität zugunsten der Kooperation aufgegeben hat und brav das tat, was die Erwachsenen verlangten. Doch wollen wir das auch für unsere Kinder?

Kinder und Jugendliche tun nichts GEGEN die Eltern, sondern FÜR sich selbst.
Das möchte ich gerne an einem Beispiel verdeutlichen: Peter hat mit seinen Eltern vereinbart, dass er um 23.00 Uhr zu Hause sein sollte. Nun stellt sich aber im Laufe des Abends heraus, dass Peters Freunde ihre Pläne geändert haben und daher 23.00 Uhr für Peter nicht eingehalten werden kann, wenn er weiter mit seinen Freunden unterwegs sein möchte. Peter steht nun vor einer Entscheidung, die ihn auf jeden Fall in eine Zwickmühle bringt: „Wenn ich bei meinen Freunden bleibe, dann erwarten mich wahrscheinlich zu Hause unangenehme Konsequenzen. Ich enttäusche meine Eltern. Sie machen sich womöglich sogar Sorgen und ich bekomme vielleicht eine Strafe.“ ABER: „Wenn ich nach Hause gehe, dann halten mich meine Freunde womöglich für uncool und machen sich über mich lustig. Außerdem weiß ich dann nicht, was die erlebt haben und bin dann am nächsten Tag aus den Gesprächen ausgeschlossen.“ Also EGAL wie Peter sich entscheidet, er kann aus seiner Sicht nicht gewinnen.

Wie können wir nun unsere Kinder dabei unterstützen, diesen Spagat zwischen Kooperation mit den Eltern und der Wahrung der eigenen Integrität zu schaffen?
Eltern, die sich emphatisch auf die Gefühlswelt ihrer Kinder einlassen wollen, könnten bereits im Vorfeld mit ihnen gemeinsam einen Plan entwickeln, was im Falle von unvorhersehbaren Geschehnissen getan werden kann. Wichtig dabei ist, dass Eltern bereit sind, in der Entscheidungsfindung flexibel zu bleiben und es nicht auf einen Machtkampf ankommen lassen wollen. Denn Machtkämpfe erzeugen immer Verlierer.

Was Jugendliche aber brauchen, sind Sparringspartner. D.h. sie brauchen Eltern, die bereit sind, möglichst großen Widerstand zu leisten, indem sie sich bei den ihnen WIRKLICH wichtigen Dingen „durchsetzen“ bzw. konsequent bleiben, ohne dabei zu großen Schaden für den Jugendlichen anzurichten. Denn für eine gesunde Entwicklung von Kindern ist auch die Kompetenz Frust ertragen zu können, eine sehr wesentliche.

Daher ist es sehr hilfreich, wenn sich Eltern immer wieder in Ruhe hinsetzen und gemeinsam überlegen, warum sie zu manchen Dingen NEIN sagen, warum ihnen gewisse Regeln wichtig sind. Je klarer die Eltern wissen und vermitteln können, wofür sie stehen, desto leichter fällt es den Jugendlichen, sich danach zu richten.

Bei diesen Entscheidungen ist die Authentizität der Eltern eine Voraussetzung. Verbote, die aus der Haltung eines „Das tut man nicht“ oder „Das gehört sich nicht!“ entschieden werden, werden von Jugendlichen selten akzeptiert. Sie brauchen Eltern, die genau wissen, warum sie welche Entscheidungen treffen. Sie brauchen Eltern, die sich als Mensch zeigen und die eine persönliche Sprache sprechen: „Ich will das nicht, weil … .“ Kinder spüren, wenn sich Eltern hinter ihrer Elternrolle „verstecken“. Unsere Tochter hinterfragte ab ihrem 11. Lebensjahr (fast) jede unserer Entscheidungen mit der immer gleichlautenden (manchmal sehr nervtötenden) Frage: „Sagt wer?“ Und das gab uns als Eltern die Chance, herauszufinden, warum wir so entschieden, wie wir entschieden. Wir konnten uns nun mit unseren eigenen (oft hinderlichen) Glaubenssätzen auseinandersetzen und wuchsen nun gemeinsam mit unseren Kindern, die uns dabei „unterstützten“ genauer auf uns und unsere Werte zu achten.

„Du musst dir unser Vertrauen erst wieder verdienen!“
Eltern sprechen oft davon, dass sie ihrem Kind nicht mehr vertrauen können. Dem Wert „Vertrauen“ wird in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung beigemessen. Doch dabei wird oft übersehen, dass das Vertrauen, von dem Erwachsene im Kontext mit Kindern sprechen, eigentlich GEHORSAM bedeutet. „Wenn du tust, was wir von dir wollen, können wir dir vertrauen.“ Doch wollen wir heute wirklich noch gehorsame Kinder, die „brav“ tun, was man ihnen sagt? Oder wollen wir nicht lieber Jugendliche, die spüren und wissen, was sie wollen oder eben nicht wollen, und sich das auch zu sagen trauen?

Ich behaupte, dass sich alle Eltern Kinder wünschen, die in der Peergruppe, wenn es um Themen wie Rauchen, Alkohol, Sex, Drogen, … geht, NEIN sagen können. Doch wenn ein Kind nicht gelernt hat, dass sein NEIN auch Gewicht hat, dass sein NEIN gehört wird, dass sein NEIN in Ordnung ist; wenn ein Kind nicht geübt hat, NEIN zu sagen, dann wird ihm dies in den Situationen, in denen sich Eltern ein Nein ihres Kindes wünschen würden, nur schwer über die Lippen kommen. Und das Übungsfeld um Nein sagen zu lernen ist nun einmal die Familie, so anstrengend und mühsam das auch manchmal für uns Eltern sein mag.

Kinder brauchen unser Vertrauen.
Vertrauen sollte dabei – genauso wie Liebe – nicht an Bedingungen geknüpft sein. Vertrauen muss nicht verdient werden. Vertrauen wird geschenkt. Ich entscheide mich als Mutter oder Vater, meinem Kind vertrauen zu WOLLEN und das immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es dabei auch immer wieder Dinge tun und Entscheidungen treffen wird, die ich mir so nicht gewünscht habe. Doch die Aufgabe von Kindern ist es NICHT, ihre Eltern nicht zu enttäuschen. Enttäuscht werden kann ja nur jemand, der eine Erwartung in eine Person hat, die diese vielleicht nicht erfüllen kann oder will.

Vertrauen in Bezug auf Kinder und Jugendliche, bedeutet für mich, dass ich als Eltern darauf vertrauen darf, dass mein Kind seine Erfahrungen selber machen muss, dass es „Fehler“ machen wird, dass es sich auch vielleicht verletzen und Situationen falsch einschätzen wird, dass es traurig und frustriert sein wird, dass es gegen die Wand läuft, obwohl daneben eine offene Tür ist UND, dass es sich auch manchmal nicht an Vereinbarungen halten wird. ALLE diese Erfahrungen MÜSSEN Kinder selbst machen dürfen, wenn wir wollen, dass aus ihnen psychisch gesunde, selbstverantwortliche, eigenwirksame, resiliente und glückliche Erwachsene werden.

 

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