Was ist wohl der Satz, den ich am öftesten von meinen Klienten und Klientinnen in meiner Praxis höre? Es ist: „Das ist aber schwer!“
Ja, das ist es. Doch lass uns am Anfang beginnen. Eltern kommen zu mir in meine Praxis, weil sie nicht mehr weiter wissen, weil sie hilflos sind, enttäuscht. Von sich selbst, einander und von den Kindern. Alles nicht so, wie sie es sich oder wie sie sich selbst in der Rolle als Mutter oder Vater vorgestellt haben. Sie sind mit ihrem Latein am Ende. Und weil sie mit ihrem Latein am Ende sind, ist es an der Zeit eine neue Sprache zu lernen. Und genau so fühlt es sich an, wenn wir anstatt im Gehorsam in einer Familie leben wollen, in der es Autoritäten gibt, die nicht autoritär sind, die sich führen trauen und Verantwortung übernehmen und ihre Macht prosozial zum Wohle aller und nicht über alle ausüben.
Und genau das muss in vielen Fällen erst einmal neu gelernt werden. Während es das Lehrbuch dazu (noch) nicht gibt und vielleicht nie geben wird. Weil auch wenn wir von beziehungsorientierten Familien sprechen, so wird es doch in jeder Familie den eigenen, höchstpersönlichen Dialekt geben, der diese Familie zu DEINER Familie macht. Wenn wir eine neue Sprache lernen wollen, dann müssen wir unser Gehirn zwingen an Orte hinzugehen, an die es automatisch nicht hin will. Und das ist oft in die Selbsterforschung unserer eigenen Erziehung, unserer eigenen Kindheit, unserer Prägungen, unserer Traumata. Diese melden sich nämlich dann, wenn wir im Stress sind, uns hilflos fühlen und nicht mehr weiter wissen. Von Emotionen und Stresshormonen überflutet greifen wir nämlich automatisch auf die Sätze und (unreifen) Verhaltensweisen unserer Kindheit zurück – sprechen also quasi Latein, weil unverständlich für unsere Kinder – oder greifen auf die Gegenteile selbiger zurück. Dann hören wir uns Dinge zu unserer Zweienhalbjährigen sagen wie: „Wenn du nicht sofort die Schuhe anziehst dann geh ich und lass dich hier alleine sitzen!“ Oder wir werden extra soft: „Du magst die Schuhe nicht anziehen. Hm. Dann warte ich noch, bis du soweit bist. Und vielleicht magst du die Stiefel anziehen? Hm?“ In beiden Fällen wird eines nicht passieren: Die Schuhe werden jetzt nicht angezogen.
Warum nicht? Weil die Haltung in der wir das sagen müssten, damit wir Orientierung geben und führen, leiten könnten, weder Teil unserer eigenen Erziehung war, noch haben wir es irgendwo in unserem nahen Umfeld erlebt. Für diese Haltung braucht es nämlich ein paar Zutaten, die für Viele so unvertraut und fast verpönt sind, als ob es sich um etwas richtig Gefährliches handeln würde: Stolz, Aufrichtigkeit, Klarheit, Würde, Größe. Gewürzt mit den Werten der Gleichwürdigkeit, Authentizität, Verantwortung und Integrität. Ich erinnere mich gut an den Moment, an dem mir das zum ersten Mal als Erwachsene schmerzhaft bewusst wurde, was ich verloren hatte – aber noch da war, zum Entwickeln bereit. Es war bei einer Selbsterfahrung, einem Coaching mit Pferden zu dem ich begleitet von meinem damaligen Mann und meinen beiden jüngeren Kindern gefahren war. Pferde sind Fluchttiere. Sie laufen bei Gefahr davon und lassen sich nur führen, wenn der Reiter ganz bei sich ist, weiß was er oder sie will, wohin die Reise gehen soll und seine Emotionen gut regulieren kann. Andernfalls geht nichts. Gar nichts und das Tier macht, was es will. Ganz spannend ist es auch, wenn das Pferd um den Zucker bettelt den du in der Hand hältst und du sollst Nein sagen. Am Pferd kannst du genau merken, ob du es meinst oder nicht. Erst wenn du es wirklich meinst, wendet sich das Pferd ab. Davor wird es buchstäblich keine Ruhe geben. Das gelang mir noch irgendwie.
Meine Aufgabe bestand nun darin, vor dem Pferd stehend das Pferd dazu zu bewegen rückwärts zu gehen. Das ist eine Bewegung, die das Tier von sich aus nicht einfach mal so machen würde – wenn es aber dazu angeleitet wird, weil der Reiter weiß, dass das jetzt sinnvoll ist und sein muss, dann geht das. Bei mir ging es nicht. Zwar konnte ich all die oben genannten Eigenschaften in mir finden; ich konnte spüren, wie sich mein Körper aufrichten wollte, wie alles in mir zu fließen begann; wie ich Rückgrat entwickelte. What a Feeling! Und dann – dann spürte ich es, dieses brennende Gefühl, das jede meiner Zellen erfasste: Scham. Ich schämte mich, mich SO vor meinem Mann, einem anderen Erwachsenen, zu zeigen. In meiner vollen Pracht und Größe! Es war entsetzlich! Ich war entsetzt! Wie konnte sowas sein? Ein mir so naher vertrauter Mensch – und ich verfiel in die mir vertraute gebeugte Haltung unterhalb der Glückslinie und Haltung meiner Kindheit zurück. Weil genau jene andere Haltung, diese Größe und Kompetenz, wurde uns Kindern bis Ende des letzten Jahrtausends abgesprochen, ja sogar bewusst abtrainiert. Die Verbindung zum inneren Kompass, zum „Core Self“, wurde angeschnitten durch grausamste Erziehungsmethoden, die einerseits der Spiegel der Zeit waren. Andrerseits aber durch den Mythos, Eltern gäben immer ihr Bestes und wollten immer nur das Beste für ihr Kind. Hat sich der verheerende Erziehungsratgeber der deutschen Ärztin Johanna Haarer nun endlich überholt, so halten sich letztgenannte Glaubenssätze hartnäckig.
Inspiriert von Menschen wie dem amerikanischen Therapeuten David Schnarch, der in seinem Buch „Brain Talk“ über ekelhafte Elternschaft schreibt und der deutschen Körper-Traumatherapeutin Dami Charf, bei der ich das Wort Entwicklungstrauma zum ersten Mal lesen durfte und damit weiter mit dem Tabu „Traumatisierung in Familien“ gebrochen wird, habe ich gemeinsam mit Jeannine Mik ein Buch geschrieben, in dem wir ansprechen, wie sich diese Traumata hinderlich auf Beziehungen auswirken. Wie wohltuend ist es, dass soziale Medien auf den Zug aufspringen, der sich unaufhaltbar in die Gehirne und Gewissen der Menschen einfährt, damit diese endlich durch Selbstkonfrontation für das eigene Tun und Getanhaben Verantwortung übernehmen können. Damit die Konfrontation IN den Menschen stattfinden kann und nicht mehr über sinnlose, fremdkonfrontative Machtkämpfe auf Kosten des Familienklimas und der Kinder die darin wohnen ausgetragen wird.
Ja, wir müssen der Tatsache ins Auge schauen, dass wir zwar sozial gut funktionieren, persönlich aber noch vieles verlernen müssen – und Neues, für uns Stimmiges, erobern und lernen müssen, wie eine Fremdsprache. Um es in einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn du müde bist, dich hinlegen willst, und dein sechsjähriges Kind an deinem Bett steht – obwohl du es gebeten hast, dir 5 Minuten Ruhe zu gönnen – und dir gefühlt 1000 mal „Mama! Mama! Mama! Nur ganz kurz! Bitte! Mama!“ direkt ins Ohr flüstert. Dann wirst du den Impuls, sie mit der Intention an die Wand zu klatschen anschreien und zuerst erkennen, dass du es nicht stoppen kannst – und hörst dich Sätze sagen und schreien, die du nie sagen wolltest. Und du wirst im Gesicht deiner Tochter das blanke Entsetzen sehen. Und du wirst dich danach schlecht fühlen – und noch mehr erschöpft sein. Um beim nächsten Mal zu merken: „JETZT falle ich runter! Und um dir beim nächsten Mal die Zeit zu nehmen, die Tür zuzumachen, damit du dich beruhigen kannst und deinen „Anfall“, deine Regression, so zum Stoppen bringst. Um beim nächsten Mal dich wieder in höhere Gehirnregionen zu ziehen, die dir erlauben, den Kontakt mit deiner Tochter zu halten, auch physisch da zu bleiben. Um beim nächsten Mal nicht mehr runter zu fallen und zu deiner Tochter sagst: “Ja, ganz kurz! Was ist los?“ Um beim nächsten Mal mit deiner Tochter zu sprechen, bevor du dich in die Erschöpfung begibst – um beim nächsten Mal schon besser zu wissen, wann du und warum du so erschöpft bist – und schon damit umgehst, damit es erst gar nicht zu so einer Erschöpfung kommt.
Das Alte ist vorbei – das Neue noch nicht etabliert. Das ist auch das Phänomen der Krise. Eine Krise erfordert Entschleunigung und Innehalt. Und Selbstzuwendung. Um auf die Frage: „Was soll ich jetzt tun?“ in sich nach Antworten zu suchen. Um Schritt für Schritt unsere Gehirne wieder auf Vordermann und -frau zubringen und unsere automatischen Regressionen in die untersten Gehirnregionen zu erkennen, eine Bewusstheit dafür zu entwickeln – und diese schließlich zu stoppen, bevor sie überhaupt anfangen und unsere Emotionen von uns Besitz ergreifen können. Das erfordert Selbstdiziplin und Comittment, ein „Whatever it takes.“ Oder, um es mit den Worten des österreichischen Philosophen Martin Buber auszudrücken: „Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen.“ DAS ist der Beginn von Beziehung, die mit der Beziehung zu dir Selbst beginnt. DAS ist Erziehung.
Kommentare
Jo
Ich weiss nicht, wie ich das genau angehen soll mit dieser Beziehung zu mir bzw. Erziehung, aber dieser Text hat mich gerade im Innersten getroffen. Wo(mit) anfangen?