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Kinder geschlechtergerecht erziehen?

von Mag.a Kristina Strauß-Botka

Elternbildung
Elternbildung
Elternbildung

Ein Wort wie „Geschlechtergerechte Pädagogik“ in den Mund zu nehmen bedeutet oft, kurz darauf mitten in einer hitzigen Debatte mit Aussagen wie „Aber so sind Buben/Mädchen nun mal“ oder „Da sollen unsere Kinder umerzogen werden!“ zu stecken. 
Oftmals wird das komplizierter gewordene „korrekte“ Sprechen verteufelt, oftmals wird sich im Zusammenhang über vermeintlich übertriebene feministische Forderungen lustig gemacht und selten geht es um mögliche positive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschlecht. Selbst in aktuellen pädagogischen Debatten wird zwar einerseits als selbstverständlich erklärt, dass „natürlich die Mädchen auch mit Autos und die Buben auch mit Puppen spielen dürfen“ aber im selben Atemzug die Angst vor der Gleichmacherei unserer Kinder kundgetan. 
Nach einer Begriffsklärung soll nun hier die gesellschaftliche Relevanz, die Chancen und die vielfältigen Möglichkeiten von einer kritischen Auseinandersetzung mit „Gender“ für im pädagogischen Bereich Tätige aufgezeigt werden. Beispiele aus der Praxis wollen verdeutlichen, dass die geschlechtssensible Förderung der Kinder von Anfang an enorme Chancen bieten kann.  
„Geschlecht“ wird einerseits als natürliche Begebenheit gesehen, es heißt: Menschen werden mit spezifischen biologischen Merkmalen geboren und sind daher der Kategorie „männlich“ oder „weiblich“ zuzuordnen. Hier beginnt die Argumentation jener, die den Gender-Begriff für sich verwenden. Es kommen zum biologischen Geschlecht viele Zuschreibungen aus der Gesellschaft zum „Mädchensein“ oder „Bubsein“ hinzu, was längst mit dem Vorhandensein biologischer Voraussetzungen nichts mehr zu tun hat. Für ElternbildnerInnen sind die Beispiele wahrscheinlich bekannt: versuchen sie, in einem Schuhgeschäft Kindergummistiefel zu kaufen – was werden sie als erstes gefragt? „Sind die für einen Buben oder für ein Mädchen?“ Dasselbe wird ihnen bei Strumpfhosen, Spielwaren, Schulutensilien oder Fahrrädern passieren. Längst gibt es das Wissen darüber, dass Mädchen und Buben bereits von Geburt an unterschiedlich behandelt werden – von der Stimmlage der Erwachsenen, die Interpretation der Gefühlslage („weinendes Kind, männlich = verägert“; „weinendes Kind, weiblich = ängstlich“ etc.), die unterschiedliche Förderung in Bezug auf feinmotorische oder grobmotorische Spielangebote (Buben, die im Alter von drei Jahren noch keine eigene Schere/ Mädchen, die kein Matchboxauto haben), Kleidung (für Mädchen in der gleichen Größe tailliert oder mit Rüschensaum, für Buben mit Abenteurercomics), das Anbieten von Freizeitmöglichkeit (Judo/Fußball/Teamsport versus Turnen/Tanzen/Reiten) usw.: es scheint keinen Bereich im Leben eines Kindes zu geben, bei dem die Frage „ist es für einen Bub oder ein Mädchen“ irrelevant ist. Bereits Dreijährigen werden durch das geschlechtsspezifisch eingeschränkte Angebot immense Erfahrungswerte genommen, dabei entgehen den Kindern wichtige und grundlegende Erkenntnisse, Routinen, Eindrücke und Selbstwahrnehmungen. 
Die Welt der Erwachsenen zeigt, wie sich die Trennung der Geschlechter fortschreibt: Wir wissen von der Lohnschere zwischen Männern und Frauen, wissen, dass wenige Väter die Chance bekommen oder sich nehmen, in den ersten Lebensjahren des Kindes durch Karenzzeiten ihre Vaterrolle leben zu können (im Jahr 2014 waren es laut Statistik Austria etwa 4% der beanspruchten Karenztage, die an Väter gingen), wissen um die ungleiche Verteilung von Frauen und Männer in Forschung, Politik, Wirtschaft, um die unterschiedliche Darstellung in den Medien, erhöhte Armutsgefährdung von Frauen – besonders den Alleinerziehenden, dem großen Unterschied bei den Pensionszahlungen für Männer und Frauen (Frauen bekommen im Durchschnitt weniger als 50% der männlichen Pensionen), der Belastung durch die Pflege Angehöriger und mehr.  Während es als Reaktion darauf „Girlsdays“ und „Boysdays“ gibt, um Teenager für atypische Berufe zu interessieren, Frauenprojekte wie „Mädchen und Technik“ oder „Frauen in die Technik“ zu einer Öffnung gegenüber diesen Berufsspaten verleiten soll  und ähnliche Projekte den Arbeitsmarkt ausgleichen wollen, wird etwas übersehen: dass nämlich die Herausbildung von Neugierde, Interessen, Stärken, Vorlieben und Ansichten darüber, was Frauen oder Männern möglich ist, schon viel früher im Leben des Menschen beginnt. Mir ist deshalb so wichtig aufzuzeigen, dass Kinder bereits schon in den ersten Lebensjahren gefördert werden können, sich in der Entwicklung nicht von Stereotypen einschränken zu lassen. Mädchen und Buben sollen bereits zu Beginn ihres Lebens die breite Palette an Möglichkeiten kennen lernen dürfen, die es gibt – und nicht nur jene, die ihrem Geschlecht entspricht. Das Ziel dahinter ist, eine vielfältigere Gesellschaft für alle und mehr Selbstverwirklichungspotential für die Einzelnen. 

Möglichkeiten und Chancen geschlechtssensibler Pädagogik Elternbildung

Den Kindern soll also nicht nur die Hälfte der Entwicklungsfelder zur Verfügung gestellt werden, sondern die gesamte Palette. In der geschlechtssensiblen Pädagogik wird auf vier Säulen gebaut:  

  • Die Säule der Personen: Welche Vorbildrollen nehmen Männer und Frauen im Leben von Kindern ein, wer dient als Rolemodels auch für geschlechts-atypisches Verhalten? Kinder sollen Frauen und Männern in verschiedensten Berufen und bei unterschiedlichsten Aktivitäten beobachten können. Buben, die einen Kindergartenpädagogen täglich erlebt haben, werden möglicherweise eher von diesem Berufsbild träumen. Mädchen, die eine Bürgermeisterin besucht haben, interessieren sich möglicherweise mehr für dieses Amt. 
  • Die Säule der Räume: Wie können durch die Auflösung von geschlechterzugeschriebenen Plätzen (von der Bau- oder Puppenecke bis zu Fußballplatz oder Rollenspielbereich) die Spiel- und damit Lernbereiche von Kindern bereichert werden? Umstrukturierungen von Räumen kann das umstrukturieren des Verhaltens beeinflussen: Kinder orientieren sich neu und frei von ausgetrampelten Pfaden. Auch das bewusste Aufsuchen oder Errichten von „geschlechtslosen“ Räumen wie in der Outdoorpädagogik oder bei Garten-/Bauprojekten (Rückzugsorte konstruieren, Kinder bei der Gestaltung mitplanen lassen) kommt hier Bedeutung zu.
  • Die Säule der Planung, Reflexion und Sprache. Bei Bildungsangeboten für Kinder schon in der Planung überlegen, wer mit den Materialien möglicherweise bereits vertraut ist, für wen es noch Hemmschwellen gibt. Mit Angeboten für Kinder vielleicht einmal herausfordern, Konventionen brechen und Neues wagen! Vielleicht bekommen die Buben beim Bügelperlen-Stecken einmal einen „Vorsprung“ an Zeit nur für sich zum Experimentieren, Fachwissen aneignen und geschickter werden, damit sie sich auch kompetent und lustvoll dem Material zuwenden können, ohne von den „geübten“ Mädchen von vornherein ausgestochen zu werden? Reflexion der eigenen Verhaltensweisen ist hier zentral: Wie bestärke/hemme/lobe ich Buben, wie Mädchen? Auf Tonlage, Gesprächsinhalte, Verhaltensmuster, eigene Rollenvorstellungen achten und diese hinterfragen. Welche Normen werden von mir an die Kinder weitergegeben, wenn es um Geschlechterrollen geht? Welche Bildungsmaterialien bieten wir an, was wird hier bezüglich Rollenbilder an die Kinder vermittelt? 
  • Und: so „aufwändig“ es Erwachsenen auch oft erscheint, hier flexibler zu werden – Sprache ist einerseits ein Spiegel der Realität, Sprache schafft aber auch Realität! Ein Beispiel dazu: wenn Kinder selbstverständlich Wörter wie Puppenpapa, Chefin, Kindergartenpädagoge oder Mechanikerin kennenlernen, werden sie es auch weniger ungewöhnlich finden, einer oder einem solchen zu begegnen oder anzudenken, in der Palette der eigenen Berufswünsche breiter zu denken. Sprachbasteleinen sind für die Sprachförderung ohnehin unumgänglich – wieso also nicht einmal die traditionellen Kinderlieder umtexten („Wer will fleißige Handwerkerinnen sehen?“) oder über das Vorkommen von Osterhäsin, Schneefrau und Ritterin diskutieren? Im Alltag auf Begriffe wie „Torfrau“ oder „Siegerin“ achten oder geschlechtsspezifische Zuschreibungen überhaupt umgehen: statt „jeder stellt sich an“ funktioniert genauso „alle stellen sich an“ oder „Alle suchen sich ein Nachbarskind“. Somit wird die kontinuierliche Betonung der unterschiedlichen Geschlechter etwas entlastet.
  • Die Säule der Elternarbeit. Von der Aufteilung der Haushaltsarbeit, über die Rollenverteilung bei der Kinderbetreuung oder die Auswahl der Geburtstagswunschliste: Eltern sind die zentralen Bezugspersonen für Kinder und tragen daher nun einmal auch in diesem Bereich eine große Verantwortung als Meinungsbildende, WelterklärerInnen und Rolemodels. ElternbildnerInnen können davon ausgehen, dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen. Wieso also nicht da andocken, wo es noch Spielraum gibt? Besonders bedeutsam ist hier, auch bewusst die Väter oder andere männlichen Bezugspersonen der Kinder ins Boot zu holen – denn einerseits erleben die Kinder in den ersten Lebensjahren von der Krabbelstube über den Kindergarten bis zur Volksschule und im Hort in erster Linie Frauen und andererseits werden Väter/Opas/Onkeln aber auch nicht bewusst angesprochen. Wer wird automatisch angerufen, wenn das Kind im Kindergarten krank wird? Wer wird gebeten, die Reservewäsche nachzufüllen? Laden wir bewusst „Papas und Mamas“ oder einfach „Eltern“ ein? Bringen wir Kinder von Alleinerzieherinnen auch auf die Idee, eine Bezugsperson wie den Onkel, Opa, lieben Freund beim Backtag einzuladen?

Was haben nun Kinder von diesen Aktivitäten, auch wenn die Mädchen später vielleicht nicht alle Astrophysikerin, IT-Profi oder Fußballstar werden wollen? Wenn die Buben nicht unbedingt Krankenpfleger, Vollzeitpapa oder Schneider sein möchten? Kinder stärken ihr Selbstwertgefühl, ihr Selbstbewusstsein, wenn sie sich selbst vielfältig ausprobieren dürfen, gefordert sind, den persönlichen Weg zu suchen und dabei nicht in Klischees verfallen! 

Wer selbst miterlebt hat, wie stolz eine Gruppe von fünfjährigen Buben auf die selbst hergestellte Dekoration fürs Sommerfest sind, wie selbstbewusst sich Mädchen nach einem Sporttag am Skateboard zeigen, wer beim Technikworkshop mit Frauen jeden Alters die Neugierde an den Innereien eines Laptops gesehen hat und das nicht-aufhören-wollen zum Weiterschrauben, wer entspannte Teenagerburschen beim Herstellen von Hautmasken miterlebt hat oder Papas, die mit Freude zum Vorlesevormittag kommen, wird erkennen: es zahlt sich aus, immer wieder einmal nach neuen Angeboten und Modellen zu suchen und die längst ausgetrampelten Wege zu verlassen.
Abschließend: Es geht nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen – Puppen zu verteufeln oder Fußbälle wegzusperren. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, in den Kindern noch mehr die Neugierde zu wecken, das Doppelte an den Entfaltungsmöglichkeiten anzubieten um die gesamte Palette an Erfahrungsspielräumen erlebbar zu machen. 

LiteraturtippsElternbildung

Wahlström, Kajsa.: Jungen, Mädchen und Erzieher/innen. Schwedische Gleichstellungspädagogik für die Kita. Weinheim 2013: Beltz Verlag
Orner, Daniela/Buch, Maja/ Meier, Elisabeth/ Rosenlechner, Karin/ Ruthofer, Mario/ Kronlachner Elisabeth: Geschlechtssensible Pädagogik im Kindergarten. Projektbericht aus dem Kindertagesheim fun&care Brunhildengasse. Wien 2003: MA57
Schnerring, Almut und Verlan, Sascha: Die rosa-hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees. München 2014: Antje Kunstmann Verlag
Auswahl geschlechtssensibler Bilderbücher:

  • „Ich mag…“ von Constanze von Kitzing
  • „Prinzessin Pfiffigunde“ von Babette Cole
  • „Ich hasse Rosa!“ von Nathalie Hense
  • „Herr Seepferdchen“ von Eric Carle
  • „Papas mit ihren Kindern“ von Guido van Genechten
  • „Wenn ich du wäre“ von Richard Hamilton
  • „Ich bin doch keine Zuckermaus“ von Sonja Blattmann
  • „Heute bin ich“ von Mies van Hout
  • „Die Rabenrosa“ von  Helga Bansch
  • „Ballerina auf vier Pfoten“ von Anna Kemp / Sara Ogilvie
  • „Paul und die Puppen“ von Pija Lindenbaum
  • „Ab heute sind wir cool“ von Susann Opel-Götz
  • „Echte Kerle“ von Manuela Olten
  • “The Family Book” (Englisch) von Todd Parr
  • „Hallo, wer bist denn du?“ von Ka Schmitz
  • „Luzie Libero und der süße Onkel“ von Pija Lindenbaum
  • „Zwei Papas für Tango“ von Edith Schreiber-Wicke
  • „König & König“ von Linda de Haan
  • “It’s Okay To Be Different” (Englisch) von Todd Parr
  • „Fiete Anders“ von Miriam Koch
  • „Prinzessin Isabella“ von Cornelia Funke 

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