Denn ich kann nicht hören, bin aber deshalb nicht stumm.
Ich bin seit meiner Geburt gehörlos, meine Eltern sind auch gehörlos. Ich trage ein Hörgerät, mit diesem höre ich ein bisschen. Ich wuchs mit der Gebärdensprache auf. Die Österreichische Gebärdensprache ist also meine Muttersprache.
Meine hörende Tante und meine hörende Oma wollten aber nicht, dass ich nur mit der Gebärdensprache aufwachse. Sie waren der Meinung, dass es für meine Ausbildung und meine berufliche Zukunft besser ist, wenn ich die Lautsprache beherrsche. Meine Eltern folgten dem Rat der beiden und so musste ich eine Zeit lang bei meiner Tante leben um die Lautsprache zu erlernen.
Ich kam in einen Kindergarten, wo nur hörenden Kinder waren. Das war sehr schwer für mich, weil die Kommunikation mit den hörenden Kindern überhaupt nicht funktioniert hat. Deshalb besuchte ich dann einen Kindergarten für hörgeschädigte Kinder. Dort durfte ich mich aber wieder nicht in Gebärdensprache unterhalten, denn alle Kinder sollten die Lautsprache verwenden und sprechen. Wir Kinder haben trotzdem oft heimlich gebärdet. Dieselbe Erfahrung habe ich anschließend auch in der Schule gemacht. Der Grund wieso hörgeschädigte und gehörlose Kinder (auch heut noch!) keine Gebärdensprache, sondern nur Lautsprache verwenden sollen ist die vorherrschende Meinung, dass die Verwendung der Gebärdensprache das Erlernen und die Nutzung der Laut- und Schriftsprache negativ beeinflusst.
Heute bin ich froh beide Sprachen zu beherrschen, aber ich hätte mir gewünscht, dass ich die Lautsprache mit weniger Druck und Zwang erlernen hätte können. Daher wünsche ich mir für die Zukunft, dass es völlig normal wird, dass gehörlose und hörende Kinder gemeinsam in der Laut- und der Gebärdensprache unterrichtet werden. Optimal wäre es, wenn ein eigenes Unterrichtsfach wie z.B. für Fremdsprachen geschaffen wird, in welchem auch Gehörlosenkultur neben der Gebärdensprache vermittelt wird.
Nur so kann eine gemeinsame Basis geschaffen werden, damit sich hörende und gehörlose Menschen besser verstehen.
Hörschädigung und Gehörlosigkeit
Es gibt verschiedene Arten von Hörschädigung:
- Gehörlosigkeit
- Schwerhörigigkeit (von 0 bis 99% Resthörvermögen)
- CI (Cochlea Implantat) – TrägerInnen
Keine Hörschädigung ist gleich. Gehörlose verwenden die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel, sprechen aber auch – die einen gut, die anderen weniger gut. Schwerhörige können beispielsweise sehr gut in Lautsprache kommunizieren, gebärden aber nicht, weil sie nie Zugang zur Gebärdensprache hatten. Andere Schwerhörige verwenden ausschließlich Gebärdensprache. Bei den CI-TrägerInnen ist es ähnlich: einige benötigen beide Sprachen, weil sie bilingual aufwuchsen, die anderen hatten mit dem Einsetzen des Implantats nur wenig Erfolg beim Hören und Sprechen und fühlen sich mit der Gebärdensprache wohler. So unterschiedlich die Charakterzüge der Menschen sind, so verschieden kann der Umgang mit einer Hörschädigung und Gehörlosigkeit sein.
Sehr häufig kommt es vor, dass Begriffe wie „hörbehindert“ und „taubstumm“ anstelle von „gehörlos“ oder “taub“ verwendet werden. Der Ausdruck „taubstumm“ findet aber nur mehr Anwendung für gehörlose Menschen, die weder die Gebärden- noch die Lautsprache beherrschen. Viele Gehörlose fühlen sich diskriminiert, wenn sie als „taubstumm“ bezeichnet werden, da sie damit die Begriffe „dumm“ und „ungebildet“ assoziieren.
Gebärdensprache
Gebärdensprachen sind vollwertige, natürliche Sprachen mit einer ganz spezifischen Struktur und einer eigenen Grammatik. Gebärdensprachen sind auf keinen Fall gleichzusetzen mit Pantomime und Zeichensprache.
Gebärdende nutzen den dreidimensionalen Gebärdenraum, wichtig ist auch die gleichzeitige Anwendung der richtigen Mimik, Körperhaltung und des Blickes. Sprache muss nicht laut sein – Sprache muss nicht mit den Ohren vernommen werden.
Entgegen der allgemein vorherrschenden Meinung sind die Gebärdensprachen nicht international. Jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache und wie alle natürlichen Sprachen weisen sie Dialekte und Soziolekte auf.
Die Sprache der Gehörlosengemeinschaft, die Gebärdensprache, ist nicht nur ein notwendiges Kommunikationsmittel, sondern auch prägender Teil der Identität und des Selbstwertgefühls gehörloser Menschen.
Obwohl einerseits die Stigmatisierung der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) in vielen Bereichen noch immer vorhanden ist, zeigt sich andererseits, dass in einem breiten Teil der Bevölkerung das Interesse an der ÖGS stetig ansteigt.
Die Österreichische Gebärdensprache wurde am 06. Juli 2005 im Nationalrat anerkannt und im Artikel 8 der österreichischen Verfassung verankert.
Gehörlosenkultur
Viele Menschen, die hörbehindert sind, verstehen sich selbst als Teil einer sprachlichen Minderheit. Die Tatsache, Ursache oder Schwere des Hörverlusts spielen dabei keine Rolle, sondern nur das Zugehörigkeitsgefühl – die Mitgliedschaft stützt sich also stärker auf eine „gehörlose Einstellung“ als auf den tatsächlichen Hörverlust. Die Gehörlosengemeinschaft setzt sich somit aus gehörlosen und schwerhörigen Personen zusammen, die die Gebärdensprache als gemeinsame Sprache benutzen, gemeinsame Erfahrungen und Werte miteinander teilen. Die Identität Gehörloser definiert sich vor allem aus dem Spannungsfeld der gehörlosen sowie der hörenden Welt heraus.
Besonderheiten in der Gehörlosenkultur sind etwa das Vergeben von Gebärdennamen, die sogenannten „fliegenden Hände“ als Applaus, die Berührung beim Zuprosten, oder die Gehörlosenwitze. Außerdem gibt es viele KünstlerInnen im schauspielerischen, literarischen oder darstellenden Bereich. So kann man sich z.B. von wunderschönen Gedichten verzaubern lassen, oder berührende Bilder betrachten, die sehr oft von der Unterdrückung in der eigenen Sprache geprägt sind.
Gehörlose berühren einander mehr als Hörende. Der Einstieg in eine Unterhaltung oder das Erlangen von Aufmerksamkeit geschieht oft durch Berührung. Meistens am Oberarm, am Unterarm oder auch an der Schulter. Wenn man neben einem guten Bekannten sitzt, darf auch am Oberschenkel berührt werden.
Technische Hilfsmittel
Gehörlose und Hörgeschädigte sind im alltäglichen Leben auf Hilfsmittel angewiesen.
Bei der älteren Generation noch weit verbreitet ist das Faxgerät. Das Handy wird so gut wie von allen Gehörlosen als Kommunikationsmittel (SMS oder Videotelefonie) verwendet.
Immer mehr Anwendung findet auch der Computer. So zählt das Versenden von E-Mails und die Nutzung von Chat- und Videochat-Diensten zum normalen Leben.
Zuhause wird auf visuelle Signale zurückgegriffen. Es gibt spezielle Lichtanlagen, z.B. Uhrwecker, Türglocken, Alarmanlagen und Babyphone mit Blitzlicht oder Vibrationskissen anstatt dem akustischen Signal.
Verena Krausneker
Verena Krausneker, geb. 1973, ist promovierte Sprachwissenschafterin an der Universität Wien. Der Fokus ihrer Arbeit sind Gebärdensprachen. 2014 – 2016 leitete sie ein europäisches Projekt zu Gebärdensprachen in der Schulbildung: www.univie.ac.at/designbilingual. Sie war 7 Jahre ehrenamtlich als Expertin für die World Federation of the Deaf tätig. Krausneker ist Mitbegründerin des Feldenkrais Institut Wien.
Normal sein dürfen – Kinder mit Hörbehinderungen
Ich bespreche Gehörlosigkeit in diesem Text vorrangig als kulturelles und linguistisches Phänomen mit Auswirkungen auf (Gruppen-)Identitäten.
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