Kaum jemand würde die Tatsache in Frage stellen, dass ein Baby Bauchweh hat, dieses spürt und durch Weinen oder andere Äußerungen/Zeichen des Unwohlseins zum Ausdruck bringt. Ebenso wenig würde jemand die Tatsache in Frage stellen, dass ein Baby seinen Hunger spürt und diesen zeigen kann. Dass ein Baby aber sein Ausscheidungsbedürfnis wahrnimmt und dieses zum Ausdruck bringen kann, wird nicht nur in Frage gestellt sondern gar als absolut unmöglich dargestellt. Vielleicht kann ein Baby noch nicht differenziert sagen, was sein Unwohlsein hervorruft, aber das kann es weder beim Ausscheidungsbedürfnis noch bei einem anderen Bedürfnis. Um differenziert zeigen zu können was es wirklich braucht, bedarf es einer mehrere Jahre dauernden Entwicklung, welche dazu führt, dass ein Kind die eigenen Bedürfnisse differenziert und (was mir fast noch wichtiger erscheint auch rational einschätzen lernt. Trotzdem ist sich auch ein Baby seines Körpers und den Vorgängen darin bewusst. Es spürt Unwohlsein ebenso wie Wohlbefinden und es wäre unnatürlich anzunehmen, dass es diese nicht in irgendeiner Art und Weise zum Ausdruck bringen kann. Wer kennt sie nicht, die Babys die weinen und offensichtlich Bauchweh haben, sich aber rasch beruhigen, wenn sie nach bewusstem Andrücken und Innehalten in die Windel ausgeschieden haben. Warum hier also von fehlender Schließmuskelkontrolle und mangelndem Bewusstsein sprechen?
Was Eltern über das Thema Sauberkeit bzw. Sauberkeitserziehung erfahren ist in erster Linie, dass Babys zu einer Kontrolle des Ausscheidungsbedürfnisses, wie auch der Schließmuskulatur noch nicht fähig seien und erst ab einem gewissen Alter erlernen könnten, mit diesem Bedürfnis umzugehen. Sie erfahren heute zudem, dass sie das gewickelte Kleinkind nicht unter Druck setzen sollten und es vollkommen normal sei, wenn ein Kind erst mit vier Jahren tagsüber und mit fünf Jahren nachts seine Blase kontrollieren könnte. Durch oftmals sehr widersprüchliche und wenig einleuchtende Erläuterungen wird den Eltern klar gemacht, dass sie vom Kind vor einem bestimmten Alter in puncto Sauberkeit nichts zu erwarten hätten.
Diese Aussagen und Erläuterungen widersprechen jedoch der Tatsache, dass Babys rund um den Globus ohne Windel aufwachsen – genau genommen sind es ca. 80% – und dabei weder ständig nasse Hosen haben noch unter permanenter Beobachtung eines Familienmitglieds stehen. Auch handelt es sich nicht nur um Babys die die überwiegende Zeit getragen werden, in warmen Ländern geboren werden oder in einem großen Familienverband leben.
Abgesehen davon zeigt die Erfahrung, dass ein Kind welches drei oder vier Jahre lang gewohnt war in die Windel auszuscheiden und sich mehr oder weniger nicht um sein Ausscheidungsbedürfnis kümmern zu müssen, oft massive Probleme damit hat wenn genau das – die Aufmerksamkeit seinem Bedürfnis gegenüber – von ihm verlangt wird. Anders als so manch anderer Experte bin ich nicht davon überzeugt, dass diese Entwicklung irgendwann von selbst kommt oder frühe Aufmerksamkeit das Kind unter Druck setzen könnte. Fakt ist, dass es beim Eingehen auf das Ausscheidungsbedürfnis eben nicht um (verfrühte) Sauberkeitserziehung geht, welche auf Lob und Tadel basiert und mit langen am Töpfchen sitzen einhergeht, sondern um bewusste Aufmerksamkeit einem Bedürfnis des Kindes gegenüber.
Weder Training noch Erziehung
Was sich rund um den Globus in der überwiegenden Windelfreiheit der Babys und der Art und Weise wie ihnen ihr sauber sein ermöglicht wird zeigt ist, dass Babys sehr wohl fähig sind ihr Ausscheidungsbedürfnis wahrzunehmen, ihren Schließmuskel zu kontrollieren und ihr Bedürfnis –wenn nötig – zu signalisieren. Abgesehen davon, dass es bei einer mangelnden Schließmuskelkontrolle beim geringsten Reiz von Blase oder Darm einfach so aus dem Baby herausrinnen würde, ist es bei logischer Überlegung vollkommen absurd davon auszugehen, dass ein Baby zwar Bauchweh wahrnehmen und durch intensives Weinen zum Ausdruck bringen kann, Darm oder Blaseninhalt aber weder spüren noch zum Ausdruck bringen können sollte. Diese Aussagen widersprechen unter anderem der offensichtlichen Unruhe des Babys bei einem dringenden Bedürfnis, sein offensichtliches Innehalten beim Ausscheiden, seine (mitunter vorhandene) Anstrengung beim Stuhlgang zum Beispiel oder (was vor allem bei älteren Babys vorkommt) sein bewusstes Verstecken unter einem Tisch oder hinter einer Ecke, wenn es ausscheiden muss. Dabei ist letzteres nur ein weiteres Glied in einer Kette von vielen kleinen Entwicklungsschritten, als – wie immer wieder gerne behauptet wird – der erste Schritt in Richtung bewusstes Ausscheiden.
Es erscheint mir absurd davon auszugehen, dass ein Baby zwar fähig sein soll verschiedene Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, gerade aber sein Ausscheidungsbedürfnis nicht wahrnehmen oder kontrollieren können soll. Nach über zehnjähriger Beobachtung und Auseinandersetzung mit der Thematik zeigt sich mir ein gänzlich anderes Bild, welches der Idee „Sauberkeit müsse einem Baby erst anerzogen oder antrainiert werden“ in Wahrheit jegliche Grundlage entzieht. Ganz zu schweigen davon, dass sie wenig logisch klingt, wenn man davon ausgeht, dass ein Baby seine Bedürfnisse wahrnehmen und zum Ausdruck bringen kann. Schließlich braucht man eine Fähigkeit die bereits vorhanden ist nicht erst antrainieren oder anerziehen. Man muss einem Baby auch nicht erst lernen, wie es an der Brust oder einer Flasche saugen kann oder wie es schluckt.
Bei Babys die ohne Windel aufwachsen lässt sich vor allem eines beobachten: Babys sind fähig ihr Aussscheidungsbedürfnis wahrzunehmen, dieses anzuzeigen und ihre Schließmuskulatur zu kontrollieren, ohne dass man sie dafür einem speziellen Training unterziehen oder unter permanente Beobachtung stellen muss. Nicht bestreiten lässt sich in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache, dass diese Fähigkeit mehr und mehr ins Unterbewusstsein rutscht je länger ein Baby gewickelt wird und im Zuge dessen keine Aufmerksamkeit bzw. kein Eingehen auf sein Bedürfnis erfährt. Denn dieses Baby lernt durch die fehlende Unterstützung und Aufmerksamkeit seinem Bedürfnis gegenüber, dass es sich um dieses nicht zu kümmern und es dieses nicht anzuzeigen braucht und der Ort für seine Ausscheidungen mehr oder weniger die Hose ist.
Auf das Ausscheidungsbedürfnis eines Babys einzugehen und darauf zu reagieren, wie dies bei der Windelfreiheit der Fall ist, bedeutet im Prinzip nichts anderes, wie auf jedes andere, auftauchende Bedürfnis einzugehen. Indem man dem Baby und seinem Bedürfnis Achtsamkeit entgegen bringt, geht seine Fähigkeit auch selbst darauf einzugehen nicht verloren, sondern bleibt erhalten. Wobei „auf das Bedürfnis eingehen“ hier nicht bedeutet, dass niemals Windeln verwendet werden dürfen oder die Eltern es nur dann richtig machen, wenn alles im Töpfchen oder in der Toilette landete. Auch bedeutet das Eingehen auf ein Ausscheidungsbedürfnis nicht, dass ein Baby solange am Töpfchen sitzen muss, bis etwas drinnen ist. Denn der Begriff „Windelfreiheit“ umschreibt lediglich den Umstand der eintritt, wenn man auf das Ausscheidungsbedürfnis eines Babys eingeht und darauf reagiert – Windeln werden weitgehend unnötig. Dennoch gibt es Eltern, die vor allem beim Unterwegs sein oder wenn sie auf Besuch sind gerne auf Windeln zurückgreifen um mögliche nasse Hosen somit zu vermeiden. Andere Eltern wiederrum verzichten gänzlich auf die Verwendung von Windeln, weil sie sich damit wohler fühlen.
Wer hier an verfrühte Sauberkeitserziehung denkt, liegt jedoch völlig falsch. Denn beim Eingehen auf die verschiedenen Bedürfnisse des Babys geht es nie um Erziehung oder Training. Kaum jemand würde beim Stillen oder der Fütterung mit dem Fläschchen von Erziehung zur Nahrungsaufnahme sprechen. Niemand würde beim Wickeln und der Pflege des Babys von Wickelerziehung oder Pflegeerziehung sprechen. Einziger Zweck des Stillens oder der Fütterung, des Wickelns oder der Pflege liegt darin, dem Baby sein Wohlbefinden zu erhalten und zu gewährleisten. Natürlich kann ein Baby noch nicht selbstständig zur Toilette gehen um auszuscheiden. Aber es kann auch noch nicht selbst zum Kühlschrank gehen um sein Hungerbedürfnis zu stillen. Es kann sich noch nicht selbstständig säubern, anziehen oder eincremen. Trotzdem spricht hier niemand von Erziehung sondern von einem Eingehen auf die Bedürfnisse eines Babys und einer notwendigen Unterstützung bzw. Begleitung bis es gewisse Bereiche selbst bewerkstelligen kann.
Was bei vielen Bedürfnissen selbstverständlich und normal ist – nämlich darauf zu vertrauen, dass ein Baby uns zeigt, wenn es sich unwohl fühlt, etwas braucht und wir in weiterer Folge darauf eingehen können, wird im Bereich der Ausscheidungsfähigkeit des Babys leider allzu oft in Frage gestellt bzw. negiert. So hilfsbedürftig Babys zu Beginn ihres Lebens außerhalb des Mutterleibs aber auch erscheinen mögen, so fähig sind sie, uns ihre Bedürfnisse mitzuteilen und auf sich aufmerksam zu machen.
Kompliziert? Nicht praktikabel?
Kurz erklärt reagiert man bei der Windelfreiheit bzw. der Kommunikation mit dem Baby über sein Ausscheidungsbedürfnis auf die Äußerungen des Babys oder auch den eigenen Impuls, setzt eine entsprechende Handlung und ermöglicht es dem Baby somit sein Bewusstsein fürs Ausscheiden zu behalten. Dabei geht es jedoch nicht um ständige Beobachtung oder übertriebene Kontrolle. Grob umrissen lässt sich die Windelfreiheit in drei wesentlichen Punkten beschreiben. Es ist eine erweiterte Form der Kommunikation mit dem Baby über seine Bedürfnisse, es geht nicht um Sauberkeitserziehung (und somit um kein zu erreichendes Ziel) und es geht nicht um die Windel.
Anstatt ihr Baby (hauptsächlich) zu wickeln, reagieren Eltern auf das Bedürfnis des Babys und geben ihm die Möglichkeit an einem geeigneten Ort auszuscheiden.
Was sich im ersten Augenblick kompliziert und nicht praktikabel anhören mag, ist in Wahrheit recht einfach zu bewerkstelligen, zumal es sich hier weder um ein Konzept noch eine bestimmte Methode handelt, wo Eltern sich an fest vorgeschriebene Muster und Handlungsanweisungen halten müssen. Wer mit seinem Baby über dessen Ausscheidungsbedürfnis kommuniziert und ihm das Ausscheiden über einem Töpfchen, der Toilette oder einem anderen geeigneten Ort ermöglicht muss sich nicht an irgendwelche Richtlinien halten sondern kann frei entscheiden ob er ganz auf Windeln verzichten oder diese doch ab und an als quasi Sicherheitshose verwenden möchte. Abgesehen davon bedeutet ein windelfreies Baby nicht mehr Aufmerksamkeit als ein gewickeltes Baby. Die Idee Windelfreiheit ließe sich nur dann umsetzen, wenn Mütter (und Väter) ständig zuhause sitzen und ihr Kind beobachten ist und bleibt eine Idee jener Menschen, die sich mit der Thematik nicht auseinander gesetzt haben.
Nur weil ein Baby Windeln trägt, bedeutet dies noch lange nicht, dass man sich nicht mehr um seine Bedürfnisse kümmern müsste. Auch ein gewickeltes Baby möchte gestillt, gefüttert und getragen werden. Auch ein gewickeltes Baby braucht Zuwendung und Nähe, Aufmerksamkeit und Dasein der Eltern. Das Ausscheidungsbedürfnis eines Babys ist letztendlich nicht sein einziges Bedürfnis sondern lediglich eines unter vielen. Einziger Unterschied zwischen einem gewickelten und einem windelfreien Baby besteht darin, dass man ein Baby ohne Windel anstatt es zu Wickeln zur Toilette bringt. Ähnlich der Vorgehenswese bei älteren Kindern.
Natürlich bedeutet ein Baby ohne Windel eine Umstellung was das Eingehen auf Bedürfnisse betrifft. Ein mögliches Ausscheidungsbedürfnis lässt sich nicht einfach so ignorieren oder auf später verschieben, wie das vielleicht beim Wickeln der Fall ist. Andererseits ist es weitaus weniger Aufwand dem Baby bei einem dringenden Bedürfnis die Möglichkeit auszuscheiden zu bieten, als es später wickeln zu müssen. Reinigung mit Feuchttüchern, Pudern oder Cremen und derlei Dingen entfallen bei einem windelfreien Baby gänzlich, da die Ausscheidungen nicht an seinem Körper gehalten werden. Pilzinfektionen im Genitalbereich kommen äußerst selten vor und die angeblich unvermeidliche Windeldermatitis ist bei einem Baby ohne Windel eine unbekannte Hauterkrankung. Wie bereits erläutert bedeutet Windelfreiheit aber nicht zwangsläufig, dass nie Windeln verwendet werden (dürfen). Durch das Eingehen auf ein Ausscheidungsbedürfnis bleibt die Windel meist aber sehr lange trocken. Der Windelverbrauch sinkt drastisch, was nicht nur zu einer Geldersparnis führt, sondern zudem auch zu weniger Müll. Geht man davon aus, dass ein Baby in zwei Jahren im Schnitt (zwangsläufig) 1 – 2,5 Tonnen Windelmüll produziert, dann ist bereits ein stark reduzierter Windelverbrauch durch das bewusste Eingehen auf das Ausscheidungsbedürfnis eine überlegenswerte Angelegenheit im Hinblick auf den stetig wachsenden Müllberg.
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