„Was zählt wirklich im Leben?“
„Schon nach der Geburt unseres ersten Kindes hatten wir oft das Gefühl, unser Leben würde gelegentlich auf dem Kopf stehen. Wenig war wie bisher. Wie wichtig uns plötzlich ein gemütliches zu Hause war. Gesunde Ernährung wurde ein Thema. Nachdem bei unserer zweiten Tochter das Rett-Syndrom diagnostiziert wurde, führte das nochmals zu einem Wertewandel,“ erzählen Claudia und Stefan auf die Frage, wie sich ihr Leben durch diese Diagnose verändert hat.
Ein Leben mit einem Kind mit Behinderung wird oft zum Prüfstein seiner eigenen Werte. Wenn der ganz normale Lauf des Lebens (falls es so etwas gibt) ins Stocken gerät, ist es oft Zeit, seine Werte, die das Leben tragen und bestimmen, neu zu überprüfen, eventuell zu verändern und an neue Lebensbedingungen anzupassen.
Wertewandel hat auch immer etwas mit Loslassen und sich etwas Neuem zuwenden zu tun. Sich von alten Werten lösen zu müssen, kann schmerzhaft sein und kann Sie in eine tiefe Trauer führen.
Verena Kast, eine sehr bekannte Trauerforscherin, beschreibt vier Phasen der Trauer, die alle Trauernden durchleben. Trauern kann man auch um ein verlorenes Idealbild seines Lebens. Trauern ist ein sehr individueller, natürlicher Vorgang. Jeder Mensch darf sich die Zeit nehmen, die er dafür braucht. Die Phasen lassen sich nicht klar abgrenzen, überschneiden sich und wirken ineinander. Wenn Sie sich mit diesen Phasen vertraut machen, verstehen Sie vielleicht Ihre eigenen Gefühle besser.
1. Die Phase des „Nicht-wahrhaben-Wollens“
In dieser Phase wird die Behinderung des Kindes nicht wahrgenommen. Betroffene sind von einem Gefühlsschock überwältigt, der sie erstarren lässt. „Ich fühlte mich wie in einem Nebel, ich konnte die Diagnose nicht glauben,“ beschreibt eine betroffene Mutter diesen Zustand. Das ist völlig normal.
Nehmen Sie diese Reaktionsweise als Selbstschutz Ihrer Psyche an, es darf sein.
2. Die Phase der aufbrechenden Emotionen
Schmerz, Wut, Angst, Zorn, Gefühle der Sinnlosigkeit und Ohnmacht, feindliche Gefühle gegen die Umwelt, Gefühle der Demütigung und Wertlosigkeit können sich breit machen. Auch diese Gefühle dürfen sein und sind normal. Sie sind Weggefährten auf dem Weg der Neuorientierung.
Versuchen Sie, diese heftigen Gefühle auszuhalten und auch auszudrücken, das kann sehr hilfreich sein. Verena Kast sagt dazu: „Das Emotions-Chaos ist ein Bild für das Chaos ganz allgemein, in dem Altes verschwindet und Neues sich bilden kann.“
3. Die Phase des Suchens, Findens und Sich-Trennens
In dieser Phase kann das Idealbild des Kindes los gelassen werden. Das Kind kann immer besser wahrgenommen werden, so wie es ist. Trauernde sollten die Möglichkeit haben, ihre Fantasien immer wieder erzählen zu können, um ihre Emotionen zu wecken und auch ausdrücken zu dürfen. Betroffene erzählen auch von inneren Zwiegesprächen, die ihnen helfen, sich der Realität zuzuwenden.
4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs
Nachdem man seinen Schmerz herausweinen und herausschreien durfte, kehrt vorsichtig Friede in die Seele ein, man kann sich der Zukunft hoffnungsvoll zuwenden. Erstmals gelingt es, die Behinderung zu akzeptieren. Es werden neue Pläne geschmiedet, das Leben geht weiter. „Je besser der Trauernde sich in die neuen Rollen hineinfindet, die das Leben von ihm verlangt, je besser er sieht, auch in Zusammenhang mit diesen neuen Rollen, welche Eigenschaften er als Mensch entwickeln kann, um so eher gewinnt er sein Selbstvertrauen und seine Selbstachtung wieder“, schreibt Verena Kast.
Können Sie diesen Phasen etwas abgewinnen? Können Sie sich mit der einen oder anderen Idee darin identifizieren?
Elternrat
An einem fixen Termin, z.B. jeden 1. Freitag im Monat, setzen Sie sich als Eltern gemütlich ohne Kinder zusammen und sprechen über wichtige Themen Ihre Familie betreffend. Arbeiten Sie zum Thema Werte gemeinsam folgende Checkliste durch. Achten Sie darauf, dass beide zu Wort kommen. Versuchen Sie, die Standpunkte der/des anderen einmal nur zu hören, ohne sie zu beurteilen oder zu bewerten.
CHECKLISTE zum Thema Werte:
- Welche Werte sind Ihnen als Familie wichtig?
- Wo tanken Sie Kraft, um Ihr Leben zu meistern?
- Brauchen Sie dafür einen besonderen Ort, besondere Menschen, Musik … ?
- Wo in Ihrem Körper spüren Sie es, wenn Sie Kraft getankt haben?
- Spüren Sie Wärme, Helligkeit, Frische, Klarheit…?
- Wie können Sie Leichtigkeit in Ihr Leben bringen?
- In welchen Bereichen Ihres Lebens fühlen Sie sich stark?
- In welchen Situationen haben Sie Freude aneinander?
- Wann haben Sie als Familie Spaß miteinander?
- Wann spüren Sie Ihr Zusammengehörigkeitsgefühl?
Erfahrungsbericht eines Vaters einer Tochter mit Down-Syndrom aus „Außergewöhnlich: Väterglück“ von Conny Wenk
„Wahrscheinlich kann niemand sein behindertes Kind mit gänzlich ungetrübter Freude und frei von Zweifeln begrüßen. Uns erging es nicht anders. Wir haben uns dreingefügt und miteinander in den dunklen Tunnel begeben. Wir sind dann ganz langsam in die neue Situation hineingewachsen, durften daran reifen und eine ganz erstaunliche Erfahrung machen: das Angst und Schrecken Einjagende kann sich in Freude und ungeahntes Glück verwandeln!“
„Keine andere Familie auf der Welt ist mit unserer identisch. Also müssen wir gemeinsam experimentieren, um einen Weg zu finden, mit dem wir alle zufrieden sind.“ (Jesper Juul)
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