Als ich gefragt wurde, ob ich meine Outing-Erfahrungen als offen schwul lebender Mann teilen möchte, dachte ich im ersten Moment: „Was kann ich da schon groß beitragen? Ich bin doch eigentlich nur ein ganz normaler Mann, der zufällig auch schwul ist.“. Aber mir wurde relativ schnell klar, dass ich das noch vor gar nicht allzu langer Zeit selber nicht so sehen konnte. Noch vor wenigen Jahren fiel es mir nämlich selber am allerschwersten, mich als das zu akzeptieren, was ich war. Nicht, weil ich Homosexualität schlimm fand. Ich bin von meinen Eltern glücklicherweise sehr liberal erzogen worden und habe schon früh gelernt, dass jeder seinen eigenen Weg im Leben finden muss, um glücklich zu werden. Das war also nicht das Problem. Nein, ich hatte einfach panische Angst davor, anders und deshalb nicht akzeptiert oder geliebt zu sein.
In einem Land vor unserer Zeit
Ich muss zugeben, dass ich mich lange nicht mehr mit den Gefühlen vor und während meines Outings beschäftigt habe, weil es für mich thematisch mittlerweile so weit weg ist, obwohl es gerade mal sechs Jahre zurückliegt. Es kommt mir vor, als würde ich mich an einen komplett anderen Menschen aus einem anderen Leben erinnern. So fremd fühlt sich der Manuel mittlerweile für mich an, der damals nächtelang wachgelegen hat. Wach aus Angst davor, einfach ich selbst zu sein. Angst davor, was meine Familie und Freunde wohl denken und sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich schwul bin. Wenn sie erkennen, dass der Manuel, den sie bisher kannten, plötzlich ein ganz anderer ist. Angst vor mir selbst, weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, dass ich – so dachte ich damals zumindest – kein normales Leben mehr führen könnte. Ich hatte einfach vor allem Angst. Und trotzdem war klar, dass ich zu meiner Familie, meinen Freunden und vor allem zu mir selbst ehrlich sein muss.
Kitschig as kitschig can be
Warum? Dafür gibt es einen ganz simplen und gleichzeitig den schönst möglichen Grund – aus Liebe! Das klingt furchtbar kitschig, aber Liebe macht eben wirklich alles möglich. Als ich im Mai 2009 meinen heutigen Ehemann oder – um es politisch korrekt zu formulieren – eingetragenen Lebenspartner kennengelernt habe, hat es mir sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggerissen. Der Zufall hatte uns zusammengebracht und von einem auf den anderen Tag wusste ich nicht mehr, wer ich war. Ich wusste nur noch, dass ich diesen Menschen liebe – egal ob Mann oder Frau. Mein Herz hat in der Situation keinen Unterschied gemacht und sofort erkannt, was für mich das Richtige ist. Es klingt extrem kitschig, aber es war Liebe auf den ersten Kuss. Und ich wusste sofort, diesen Menschen darfst Du nicht gehen lassen. Schon gar nicht deshalb, weil Du Angst hast. Mein Mann hat zwar keine Sekunde von mir verlangt, mich für ihn zu outen, aber ich wusste, dass es der richtige und nötige Schritt war. Denn mir selber die Chance zu verbauen, die Liebe meines Lebens in vollen Zügen zu genießen und sie stattdessen nur im Rahmen eines mühseligen Lügenkonstrukts heimlich zu erleben, kam für mich nicht in Frage.
Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wär’…
Und trotzdem blieb die Angst! Kopf und Herz haben in dieser Zeit heftig gegeneinander gearbeitet und sich regelrecht bekriegt. Das Herz wusste, dass ich mit meiner Familie und meinen Freunden reden musste. Doch der Kopf hat immer dazwischen gerufen: „Aber was, wenn!“ Und es gab viele Abers und Wenns, die mir eingefallen sind. Rückblickend waren es keineswegs die rationellsten Einwürfe, aber in solch einer gefühlstechnischen Ausnahmesituation fällt es auch dem schlausten Kopf manchmal schwer, vernünftig zu bleiben.
Wenn ich im Folgenden nur vom Outing bei meiner Mama erzähle, dann deshalb, weil sie einer der absolut wichtigsten Menschen in meinem Leben ist und es mir bei ihr am allermeisten bedeutet hat, dass sie es weiß und an meiner Seite ist. Ich wollte vor allem meine Mama nicht anlügen.
Wenn ich mich heute an den Abend erinnere, an dem ich mit meiner Mutter gesprochen habe, muss ich schmunzeln. Ich hatte all meinen Mut zusammen genommen und gesagt: „Mama ich habe einen Mann geküsst und kann nicht mehr aufhören, an ihn zu denken.“ So, da war es endlich ausgesprochen. Nein, nicht ausgesprochen, ich hatte es ihr regelrecht ins Gesicht geknallt. Ihre Reaktion? Erstmal Stille. Dann hat sie mich nur gefragt: „Warum?“ Und hat geweint. Ich konnte ihr keine Antwort geben und war völlig irritiert, weil meiner Meinung nach war ich doch derjenige, der mit der Situation total überfordert war und auf Verständnis gehofft hatte. Im ersten Moment glaubte ich sogar, mein Kopf hätte mit seinen ganzen Wenns und Abers doch recht gehabt und meine Mutter, die ich über alles liebe, würde mich nicht so akzeptieren können, wie ich bin: ihr Sohn, der schwul ist.
Geteilte Angst, ist halbe Angst
Doch dann habe ich erkannt, dass das überhaupt nicht das Problem war und heute schäme ich mich für meine dummen Gedanken. Meine Mutter ist eine absolute Löwenmama und würde alles für ihre Kinder tun – bedingungslos. Aber in dieser Situation fühlte sie sich einfach hilflos. Ich weiß, dass ich sie mit meiner Offenbarung ziemlich unvorbereitet getroffen habe und das tut mir im Nachhinein auch unendlich leid. Vor allem weil ich mich im ersten Moment so missverstanden gefühlt habe. Aber meine Mama hat damit einfach überhaupt nicht gerechnet und wusste nicht, wie sie reagieren und damit umgehen soll. Wie auch? Ich wusste es ja selber nicht! Aber ich hatte mich wenigstens innerlich schon Tage zuvor auf das Gespräch vorbereiten können und wurde nicht von jetzt auf gleich ins eiskalte Wasser gestoßen. Sie wollte für mich da sein, wusste aber nicht wie. Sie hatte einfach Angst, dass sie mich nicht beschützen kann. Dass es Leute geben könnte, die mich nicht akzeptieren. Dass man sich über ihren Sohn lustig macht. Und dass ich nicht glücklich sein könnte. Das wäre das Schlimmste für sie gewesen. Denn egal, ob schwul oder nicht, meine Mama wünscht sich nichts mehr, als dass ihre Kinder glücklich sind.
Als ich erkannt habe, dass es meiner Mutter nicht darum ging, dass ich schwul bin, sondern sie genau wie ich einfach Angst hatte, konnte ich viel besser mit der Situation umgehen. Und ich konnte ihr zeigen, wie befreit und glücklich ich nach meinem Outing war. Ich fühlte mich, als wäre ein ganzer Steinbruch von meiner Brust abgefallen. Nach und nach fand ich den Mut, mit meiner gesamten Familie und meinen Freunden zu reden. Und ich konnte mein Glück gar nicht fassen, mit wie viel Liebe und Verständnis ich auf- und angenommen wurde. Meine Angst fühlte sich plötzlich so dumm an. Und daher kann ich nur allen Eltern und Kindern raten, ehrlich miteinander über ihre Ängste und Gefühle zu reden. Gebt Euch gegenseitig die Chance, die Gefühle des jeweils anderen zu verstehen – das kann vieles leichter machen. Für Kinder sind ihre Eltern die wichtigsten Bezugspersonen und wir brauchen das Gefühl, dass wir mit unseren Sorgen und Problemen immer zu Euch kommen können. Und falls Ihr in die Situation kommt, dass sich Eure Kinder bei Euch outen, denkt bitte daran, welche Überwindung es sie gekostet hat und dass sie sich nichts mehr wünschen, als dass Ihr für sie da seid, sie nicht verurteilt und einfach so liebt, wie Ihr es bisher getan habt – als Eure Kinder. Und wenn Ihr Angst vor dem Unbekannten habt, dann redet mit Euren Kindern darüber. Zeigt Ihnen, dass sie nicht die einzigen sind, die Angst haben. Denn nur dann können sie auch Verständnis für Euch haben. Ich habe es selbst erlebt.
Beziehungstechnischer Frühjahrsputz
Ich schätze mich wirklich extrem glücklich, dass ich im Zusammenhang mit meinem Outing nur sehr wenige negative Erfahrungen gemacht habe. Natürlich gab es unschöne Momente, Tränen und Unverständnis. Aber rückblickend muss ich feststellen, dass ich die Menschen, die nach meinem Outing aus meinem Leben verschwunden sind, nicht wegen meiner Homosexualität verloren habe, sondern weil ich nicht mehr zu ihnen und sie nicht mehr zu mir gepasst haben. So gesehen war mein Outing auch eine Art beziehungstechnischer Frühjahrsputz. Das muss man akzeptieren können und wenn es manchen Menschen leichter fällt, die Entscheidung des Loslassens an meiner sexuellen Orientierung festzumachen – auch gut. Ich genieße mein Leben heute in vollen Zügen und bin überglücklich, dass ich einen Partner an meiner Seite habe, der mich bedingungslos liebt und mit mir durch die Hölle und zurück gehen würde. Und dass ich Eltern habe, die ihre Schwiegertochter mit Bart aufgenommen haben wie ihren eigenen Sohn und auf unserer Hochzeit vor Glück geweint haben. Und dass ich Familie und Freunde in meinem Leben habe, für die ich immer einfach nur der Manuel bin. Für mich ist es ein unschätzbares Geschenk, dass ich mein Leben mit diesem wunderbaren Menschen teilen darf. Und so kann ich mich heute glücklicherweise als das sehen, was ich bin. Ein ganz normaler Mann, der zufällig auch schwul ist.
Kommentare
Waltraud
Gratuliere dir!