ADHS ist die Abkürzung für „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“. Es ist eine so genannte „phänomenologische“ Diagnose des Verhaltens. Das bedeutet, es gibt keine 100%-ige Methode des Beweises bzw. keinen absolut sicheren Test oder Befund, der diese Diagnose bestätigt oder widerlegt. Sie wird letztendlich aus der Anamnese und der Beobachtung des Verhaltens klinisch gestellt.
Die typische Kernsymptomatik setzt sich aus drei Elementen zusammen: einer außergewöhnlichen Störung der Konzentration und reduzierten Fähigkeit die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten („Unaufmerksamkeit“), ein übermäßiger Drang nach Bewegung und beständiges Unruheverhalten („Hyperaktivität“) sowie eine schlecht funktionierende Impulskontrolle („Impulsivität“). Es gibt – deutlich seltener – auch ein Erscheinungsbild, bei dem das Unruheverhalten fehlt und die bloße Konzentrationsstörung im Vordergrund steht. Dieses wird dann ADS genannt.
Die Vergabe beider Diagnosen ist darüberhinaus nur berechtigt, wenn diese Auffälligkeiten dem Lebensalter nicht angemessen sind (ein 5-jähriges Kind etwa hat ganz natürlich einen höheren Bewegungsdrang, weniger Konzentration und weniger Beherrschung als ein 8- oder 9-jähriges), wenn sie situationsübergreifend sind, also in mehreren alltäglichen Situationen und Lebensräumen vorkommen und nicht nur in einer spezifischen Konstellation, sowie wenn sie schon mehr als 6 Monate anhalten und vor dem 6. Lebensjahr begonnen haben.
Im Alltag stellt sich die Symptomatik häufig so dar, dass das Kind etwa in der Schule nicht dem Unterricht folgen kann, ständig abgelenkt ist, häufig Sachen verliert oder vergisst, rasch nicht mehr weiß, was vereinbart wurde, u.ä.m. Kleinere Kinder können etwa bei einem Spiel nicht verweilen, räumen ständig etwas Neues herbei und es entsteht in kürzester Zeit erhebliches Chaos. Sie sind ständig in Bewegung, können nicht ruhig sitzen, wippen, stehen auf, springen herum, auch wenn dies für die Situation gerade sehr unpassend ist (in der Schulstunde, beim Zeichnen, etc.). Und zuletzt können sie ihre Impulse, Wünsche und Bedürfnisse schlecht kontrollieren, rufen heraus, können nicht warten bis sie dran sind, boxen und schlagen rasch, u.ä.m. Dies alles ist je nach Alter und Charakter natürlich unterschiedlich zu beurteilen.
Häufig entstehen daraus erhebliche sekundäre soziale Probleme: sie werden ausgegrenzt, finden kaum Freunde, werden von KindergärtnerInnen oder LehrerInnen als schwierig und anstrengend erlebt und oft abgelehnt. Auch mit Eltern und Geschwistern kommt es häufig zu großen und chronischen Dissonanzen. Dies verstärkt wiederum aber oftmals nur das herausfordernde Verhalten. Es ist ein Teufelskreis einer sozialen Dysregulation, der da entsteht und oftmals zu Überforderung und tiefer Verunsicherung, auch zu Ohnmacht und Unverständnis des Umfelds, bis hin zur Entwicklung von zusätzlichen psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen führt.
Die Frage, woher dieses Verhalten kommt, ist bis dato wissenschaftlich nicht endgültig geklärt. Es ist vielmehr anzunehmen, dass es recht verschiedene Ursachen und auch Kombinationen davon gibt. Zum einen muss man in Rechnung stellen, dass manchmal (Klein-)kinder sehr anstrengend und fordernd sein können, sie wollen springen, klettern, raufen, gleich etwas haben und nicht warten, etc., was dem Ruhebedürfnis der Erwachsenenwelt oft widerspricht, ohne dass es aber wirklich krankheitswertige Ausprägung hat. Dann ist bekannt, dass Kinder nach Frühgeburtlichkeit oder Komplikationen rund um die Geburt statistisch deutlich häufiger zu Unruheverhalten und Unkonzentriertheit, etwa auch zu Teilleistungsstörungen neigen. Es gibt auch die Annahme, dass ADHS eine genetisch vererbte Erkrankung ist. Diese Hypothese wird allerdings auch heftig angezweifelt, weil die „Ausbreitungsgeschwindigkeit“, d.h. die zunehmenden Fallzahlen rechnerisch dafür viel zu hoch sind. Immer wieder sehen wir Kinder mit Hochbegabung, die leider auch ADHS-Verhalten zeigen. Möglicherweise sind sie von den Lern- und Spielanregungen unterfordert. Umgekehrt und viel häufiger sind Kinder von den Angeboten der Umwelt überfordert, weil sie eher schwach begabt sind. Sie können dann z.B. dem Unterricht nicht folgen, oder verstehen ein Spiel nicht und steigen aus der Anforderung aus. Häufig ist das Bild auch vergesellschaftet mit Störungen der Wahrnehmung oder Wahrnehmungsverarbeitung, wo schwer zu sagen ist, was Henne und was Ei ist. Nicht zu übersehen oder zu vergessen ist auch, dass Kinder mit psychosozialen Belastungen wie chronische Streitbeziehung der Eltern, Scheidung, Umzug, Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder ähnliches ein derartiges Verhalten als Ventil oder Ausdruck ihrer inneren Not entwickeln können. Zum Teil deckt sich die Symptomatik auch mit jener, die durch eine echte Traumatisierung entsteht.
Eher seltene Differenzialdiagnosen – also Erkrankungen die teilweise ähnlich aussehend, aber vom ADHS abzugrenzen sind – sind etwa Schilddrüsenfunktionsstörung, Epilepsie, Tic-Störungen, Folgen eines Schlafapnoesyndroms, organisch-neurologische Erkrankungen oder genetische Syndrome bis hin zu Psychosen bei Jugendlichen.
Krankheitsbilder, welche häufig mit ADHS vergesellschaftet sind, sind z.B. Störungen des Sozialverhaltens, oppositionelles Verhalten, Tic, Angst und Depression.
Daraus wird deutlich wie vielfältig und komplex die Frage einer guten und richtigen Diagnose ist. Diese kann heute eigentlich keine Einzelperson mehr stellen, sondern es braucht ein multidisziplinäres Team von einer erfahrenen fachärztlichen Einschätzung, einer psychologischen Begutachtung sowohl der Begabung wie auch der psychischen Situation mit zusätzlichen Möglichkeiten der Ergotherapie, Logopädie, Pädagogik oder Sozialarbeit, manchmal auch der medizinisch-apparativen Diagnostik. Nur ein derart erhobenes seriöses Gesamtbild der Situation kann ein gutes und verlässliches Ergebnis bringen. Einrichtungen, die das in guter Qualität anbieten sind in Wien etwa die Ambulatorien der VKKJ („Verantwortung und Kompetenz für Kinder und Jugendliche“), die Zentren für Entwicklungsförderung, das SOS-Ambulatorium in Floridsdorf, aber auch die Abteilungen für Kinder- und Jugendheilkunde oder Kinder- und Jugendpsychiatrie sind gute Anlaufstellen.
Therapeutisch macht dann je nach der erhoben Ursache eine oft sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzung Sinn. Eine Art Stufenplan ist aber für alle Fälle zu empfehlen: es braucht erstens gute Information der gesamten Umwelt (Eltern, Schule, Kindergarten, …) über das jeweilige Störungsbild und dessen Folgen (Kinder werden etwa oft einfach als dumm oder schlimm abgestempelt, obwohl dies gar nicht der Wahrheit entspricht); dann sollte es eine Unterweisung geben, wie im Alltag mit diesem Problem umgegangen werden könnte (Psychoedukation); im Weiteren ist zu überlegen, welches hilfreiche therapeutische Angebot für die jeweilige Störung gesucht oder angeboten werden könnte (Psychotherapie, Ergotherapie, Psychomotorikgruppe, Förderung von Teilleistungsstörung oder Aufmerksamkeitstraining, Familientherapie, …); und zuletzt ist der Einsatz von Medikamenten zu erwägen, was zumindest für die Erstverschreibung aber jedenfalls in die Verantwortung eines Facharztes gehört. Die Verabreichung von Medikamenten bei Kindern ist oft mit Angst und Abwehr besetzt. Wenn diese nicht leichtfertig sondern bedachtsam und gut abgewogen gegeben werden und die nichtmedikamentösen Maßnahmen die Symptomatik nicht ausreichend verbessern konnten, dann sind sie als zusätzliche Maßnahme absolut gerechtfertigt und oft sehr hilfreich. Studien haben ergeben, dass die größte Wirksamkeit durch die Kombination von nichtmedikamentöser und medikamentöser Therapie erzielt wird. Aber das ist natürlich von Fall zu Fall verschieden und muss vom Facharzt entschieden werden.
Das Leben mit einem Kind mit ADHS ist oft wirklich nicht einfach, es kann aber auch sehr bereichernd sein, wenn man sich darauf einlässt und das Verhalten nicht bloß verurteilt. Überforderung oder Ablehnung sind kontraproduktiv. Diese Kinder brauchen umso mehr eine wohlwollende, aber klare Struktur, und viel Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit von ihrer sozialen Umwelt. Dann kann sich das schwierige, vielleicht in ein kreatives und positiv lebendiges Verhalten verwandeln und die wahren Potentiale ausgeschöpft werden.
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