Eltern und Bezugspersonen wünschen sich, dass ihre Kinder zu eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Menschen heranwachsen, die einen wertschätzenden Umgang mit sich und anderen pflegen.
Die verständliche Sorge, dass Kindern und Jugendlichen etwas passieren könnte, führt jedoch häufig dazu, dass die Sexualpädagogik immer noch als Verhinderungspädagogik stattfindet. Die Idee, dass mit dem erhobenen Zeigefinger ungewollte sexuelle Begegnungen, sexuell übertragbare Krankheiten, Verhütungspannen oder ungewollte Schwangerschaften verhindert werden können, ist wohl weit verbreitet.
Angst macht nicht kompetent
Bei Kindern, Jugendlichen und letztendlich auch bei Erwachsenen führt eine negative emotionale Einbettung in ein Thema allerdings nicht in die Handlungserweiterung. Im Gegenteil. Angst macht nicht kompetent. Negative Emotionen lähmen und blockieren das Lernen. Für einen langfristig erfolgreichen Lernprozess braucht es eine positive emotionale Einbettung.
Eine funktionierende Sexualpädagogik muss daher einen ressourcenorientierten Ansatz verfolgen. Es geht um die Erweiterung der Kompetenzen, es geht um Rahmenbedingungen und Faktoren, die die sexuelle Gesundheit fördern. Vergleichbar mit dem Modell der Salutogenese das Aaron Antonovsky prägte. Gesundheitsförderung umfasst viel mehr als die Verhinderung von ungewollten Erkrankungen. Sie findet beispielsweise immer dann statt, wenn Kinder und Jugendliche zu Bewegung motiviert werden, wenn sie viel über ihren eigenen Körper, dessen Entwicklung und Reaktionen erfahren dürfen, wenn sie lernen, wie man sich in stressigen Situationen körperlich und emotional regulieren kann, beziehungsweise wie man trotz erlebter Belastung wieder Erholung finden kann. Gut auf sich selbst aufzupassen, braucht viele unterschiedliche Fähigkeiten und positive Lernerfahrung.
Sexualpädagogik aus Sicht des ISP
Die Sexualpädagogik aus dem Blickwinkel des Österreichischen Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapien ist demnach das respektvolle Achten und Beachten des sexuellen Entwicklungsaspekts einer Person. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, sozioökonomischen Faktoren,…. Das heißt, die Sexualpädagogik ist letztendlich als lebenslanger Begleitprozess – der mehr umfasst als nur ein einzelnes Gespräch – auf den sexualitätsbezogenen Entwicklungsebenen von Menschen zu betrachten. Beginnend ab dem Moment, wo ein Baby zur Welt kommt. Die ersten zehn Lebensjahre sind besonders entwicklungsrelevant. Dies hängt damit zusammen, dass in den ersten zehn Lebensjahren, das Lernen schneller vorangeht, da die relevanten Synapsen in der frühen Kindheit schon festgelegt wurden. Trainiert werden kann ein Gehirn immer, völlig neue Gehirnverbindungen herzustellen dauert nach der Kindheit allerdings wesentlich länger.
Frühsexualisierung
Oftmals haben erwachsene Menschen große Sorgen davor, dass Kinder „verstört“ oder zumindest überfordert werden könnten, wenn mit ihnen zu früh über das Thema Sexualität und Körper gesprochen wird. Aber wenn klar wird, dass der sexuelle Entwicklungsprozess Kompetenzen auf körperlicher, emotionaler, kognitiver und sozialer Ebene beinhaltet, dann wird auch klar, dass es ein zu früh nicht wirklich geben kann. Denn das Lernen einer eigenen Körperwahrnehmung und einer eigenen emotionalen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit beginnt ab der Geburt. Jedes Berührungsangebot das Eltern oder Bezugspersonen setzen, jedes Mal, wenn die Emotionen des Kindes erkannt und für das Kind benannt werden und jedes stabile Beziehungsangebot, sind Lernprozesse. Lernprozesse, die auf die kindliche Entwicklung und als integralen Bestandteil auch auf die Sexualität Einfluss nehmen. Dass es einen Unterschied macht, wie Eltern und Bezugspersonen auf die Kinder eingehen und was Kinder daraus lernen, ist in vielen Studien belegt.
Beispiel: ein 1,5jähriges Kind versucht, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen, indem es die Eltern anlächelt, winkt, auf ein Spielzeug zeigt oder ein vergnügtes Quietschen von sich gibt. Aber alle diese Versuche zur Kontaktaufnahme scheitern, denn die Eltern sind vertieft in ein Gespräch. Erst ein zorniges Schreien schreckt die Eltern auf und lässt sie reagieren. Wenn solche Situationen gehäuft auftreten, wird das Kind wohl die Abkürzung nehmen und gleich mit Schreien die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen. Aus Perspektive des Kindes ist das auch sehr schlau – es hat schließlich eine Möglichkeit gefunden, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen. Und es wird die Dinge, die in der Vergangenheit nicht funktioniert haben, erst gar nicht mehr versuchen.
Gesundheitsförderung versus Prävention
Die Sexualpädagogik ist demzufolge in der Gesundheitsförderung verankert. Je mehr sexuelle Basiskompetenzen (siehe Artikel „Was bedeutet Sexualerziehung“) Kinder im Laufe ihres Lebens ansammeln, desto besser können sich Kinder in ihrem Alltag gestalten, desto besser können sie ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und kommunizieren, desto besser können sie auch Nähe und Distanz regulieren und auch die Grenzen von anderen Kindern wahren. Während in der Erwachsenensexualität Konsens – also die gegenseitige Einwilligung in eine sexuelle Begegnung – Grundvoraussetzung für jede sexuelle Aktivität ist, so muss bei Kindern das Thema Konsens noch differenzierter betrachtet werden. Denn zu Kindern zu sagen, „sag einfach nein, wenn du etwas nicht möchtest!“, klappt oftmals nicht. Dies hat mehrere Gründe. Sexuelle Übergriffigkeiten finden sehr häufig im nahen Bezugsfeld statt und sind daher die schlimmste Form der Gewalt auf der Beziehungsebene. Betroffene Kinder sind emotional höchst abhängig von der übergriffigen Person, daher ist es nahezu unmöglich, dass diese Kinder ein „nein, ich möchte das nicht“ formulieren. Dazu kommt der Aspekt der sexuellen Entwicklung. Je jünger Kinder sind, desto offener und neugieriger sind sie auch auf andere Körper. Aufgrund der sexuellen Entwicklung, die im Kleinkindalter eine Offenheit mit sich bringt, wird das Kind ebenfalls kein „nein“ aussprechen können.
Als dritte Komponente kommt der soziale Entwicklungsaspekt hinzu. Kinder müssen ein gegenseitiges Ausverhandeln und die Fähigkeit Kompromisse einzugehen erst lernen. Je jünger das Kind ist, desto weniger soziale Handlungsmöglichkeiten im Sinne eines Ausverhandelns hat es.
Beispiel: Ein Kind möchte von einem anderen Kind ein Spielzeug haben. Die erste Strategie wird sein, dem anderen Kind das Spielzeug einfach wegzunehmen.
Mit diesem Verhalten kommen die Kinder aber vermutlich schnell an die Grenze, da erwachsene Personen in derartigen Situationen eingreifen. Dann wird sich das Kind eine neue Strategie zulegen. Sehr oft heißt diese Strategie dann Erpressung. „Wenn du mir das Sielzeug nicht gibst, dann bist du nicht mehr meine beste Freundin/dann bist du nicht mehr mein bester Freund – und darfst daher nicht zu meiner Geburtstagsparty kommen.“ Höchstwahrscheinlich wird diese Strategie funktionieren. Diese Kinder sind übrigens nicht böse oder unerzogen. Es sind nun mal Kinder, die noch lernen müssen, wie man Dinge ausverhandelt. Konsensfähigkeit braucht also Kompetenzen, die Fähigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen voraussetzen.
Übrigens: Wenn ein Kind eine Situation erlebt hat, in dem nicht nur ein Spielzeug erpresst wurde, sondern ein sexuelles Spiel, kann es trotzdem sein, dass die beteiligten Kinder dieses sexuelle Spiel ambivalent oder sogar lustvoll finden. Dies hängt damit zusammen, dass Kinder sehr stark im Hier und Jetzt verankert sind, dass Dinge im Moment als angenehm erlebt werden, obwohl sie vielleicht durch Erpressung zustande gekommen sind. Sexualität durch die Erwachsenenbrille betrachtet, funktioniert natürlich ganz anders. Daher sind erwachsene Menschen oftmals sehr irritiert, wenn sie von Kindern solche Situationen völlig unaufgeregt erzählt bekommen.
Aber natürlich ist das kein Plädoyer für Erpressung. Erpressung ist nie in Ordnung – auch nicht unter Kindern. Damit Kinder die sozialen Kompetenzen erlernen, Dinge auszuverhandeln, brauchen sie eine gute Begleitung und Unterstützung durch Erwachsene.
Doch wie klappt das? Ein: „sag nein, wenn du etwas nicht magst!“, ist wie bereits erwähnt, viel zu kurz gegriffen. Damit Kinder in Situationen nein sagen können, brauchen sie:
- die Fähigkeit, auf der Körperwahrnehmungsebene zwischen angenehmen und unangenehmen Berührungen unterscheiden zu können.
- die Fähigkeit, eigene Emotionen wahrzunehmen, zu benennen und verarbeiten zu können.
- ein Umfeld, dass autonome Entscheidungen des Kindes respektiert und nicht abwertet. (Beispiel: Ein 5jähriges Kind darf aus einer Anzahl von Kleidungsstücken frei wählen, was es anziehen möchte. Die Wahl des Kindes muss respektiert werden, auch dann, wenn aus Sicht der erwachsenen Person die Farbkombination vielleicht nicht passend erscheint😉)
- ein Umfeld, das dem Kind stabile Beziehungsangebote macht, auch wenn sich das Kind manchmal völlig „daneben“ verhält.
- die Erfahrung machen dürfen, dass eine Beziehung hält, auch wenn das Gegenüber liebevoll, aber doch sehr direkt zurückgewiesen wird.
Diese und wohl noch mehr Kompetenzen braucht es, um konsensfähig sein zu können. Es braucht also wesentlich mehr, als auf der Regelebene ein „Nein“ zu formulieren. Es braucht Basiskompetenzen, die Kinder von klein auf im Spiel, im Gespräch, im Kontakt mit anderen Personen lernen. Hierfür ist der Alltag handlungsrelevant.
Wie können nun Gespräche im Alltag gelingen?
In den sozialen Medien, zu denen sehr häufig auch schon kleine Kinder einen uneingeschränkten Zugang haben, erscheint das Thema Sexualität omnipräsent. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings sichtbar, dass das Thema Sexualität nach wie vor ein großes Tabuthema ist. Tabuthemen zeichnen sich dadurch aus, dass extravagante Dinge besprochen werden, während für die Basis die alle Menschen betreffen, die Worte fehlen. Sehr deutlich wird dies beim Thema kindlicher Sexualität. Kinder im Volkschulalter kennen oftmals Begriffe für erwachsene Sexualpraktiken oder wissen über Pornofilme Bescheid, aber darüber, dass es einen Unterschied zwischen Erregung und Erektion gibt – etwas was den sexuellen Körper von allen Menschen betrifft – wird nicht mit den Kindern besprochen. Das würde die Kinder aber unmittelbar betreffen, denn einen Körper mitsamt einer genitalen Spürfähigkeit haben auch Kinder und nicht nur Erwachsene.
Das Nicht-Ansprechen des Themas führt oft dazu, dass bei Kindern Irritation zurückbleibt, wenn sie medial mit dem Thema Sexualität konfrontiert werden. Eltern fragen sich vielleicht, wann der Moment da ist, wo die kindliche Sexualität abgeschlossen ist, um den passenden Zeitpunkt für das berühmt berüchtigte Aufklärungsgespräch zu finden. Betrachtet man die sexuelle Entwicklung, dann ist dieser Übergang früher als Menschen denken. Ab dem Zeitpunkt, an dem sexuelle Empfindungen und sexuelles Verhalten von einer Person kognitiv bewertet werden, verändert sich die Sexualität in Richtung einer Erwachsenensexualität. Bei den meisten Kindern ist dies in etwa im Alter zwischen zehn und dreizehn Jahren. Es ist nachvollziehbar, dass das für das Umfeld sehr herausfordernd sein kann. Einerseits steht da eine Person vor einem, dessen Sexualität beginnt, erwachsen zu werden. Andererseits zeigt das Kind noch typische Verhaltensweisen, die erwachsene Personen klar an ein kleines Kind erinnern. Hier braucht es viel Respekt und Fingerspitzengefühl von Eltern und Bezugspersonen. Wesentlich ist also ein respektvolles und einfühlsames Gesprächsangebot über das Thema Körper und Sexualität. In einer freundlichen und offenen Sprache, ohne um den heißen Brei herumzureden. Nicht dienlich ist es, wenn Erwachsenenthemen in kindlicher Sprache verpackt mit den Kindern besprochen werden. Beispielsweise hat das Thema Verhütung für Kinder im Volksschulalter wenig bis keine Relevanz für deren kindliche Lebenswelt. Es gewinnt auch nicht an Lebenswelt, nur weil Kondome und Co in einer kindlichen Sprache erklärt werden.
Ein gelungenes Gespräch zeichnet sich dadurch aus, dass die wirkliche Lebenswelt des Kindes respektvoll ernstgenommen wurde. Um beim eben genannten Beispiel zu bleiben: ein Thema, das Kinder am Ende der Volksschule haben, ist die Pubertät. Die körperlichen Veränderungen, die sie gerade durchmachen oder die sie demnächst erleben werden.
Wesentlich für das Gespräch ist es auch, dass von Bewertungen und Moralisierungen abgesehen wird.
Gespräche gelingen vielleicht auch nicht immer, dies hat dann verschiedene Gründe und ist kein Weltuntergang. Letztendlich gibt es das eine Aufklärungsgespräch, bei dem alles gesagt wird, was es zu sagen gibt, ohnehin nicht. Es sind viele Gespräche – manchmal in einer sehr gemütlichen Atmosphäre, gemeinsam am Tisch mit vielen Büchern, oder bei einem Spaziergang im Wald – manchmal aber vielleicht auch nur schnell zwischen Tür und Angel. Aber darum geht es in der Betreuung und Begleitung von Kindern: die Bereitschaft zu signalisieren, Ansprechperson zu sein.
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