Durchschnittlich alle zehn Minuten streiten Geschwister, behaupten Studien. Vermutlich wurden da die Eltern befragt, denn gefühlt bestimmen Streitereien, Nörgeleien und Eifersucht das Familienleben. Idyllische Harmonie hat Seltenheitswert. Doch wieso kriegen sich die lieben Kleinen überhaupt so oft in die Haare? Evolutionsbiologen und Hirnforscher haben die Antwort: Über Jahrtausende bedeutete jedes zusätzliche Kind der Familie vor allem einen Nachteil im Wettkampf um Essen, Körperkontakt mit der Mutter, Platz am Feuer. Die Devise lautete daher: Nimm, was du kriegen kannst! Und ist es zu wenig, dann schrei!
Flucht oder Kampf
Unsere ursprünglichste Reaktion auf Stress wird vom ältesten Teil des Gehirns, dem Stammhirn, gesteuert und beschränkt sich auf Flucht oder Kampf. Komplexe Strategien der Konfliktlösung stehen im Kleinkindalter noch nicht zur Verfügung, da sie erst Schritt für Schritt gelernt werden. Wird ein Zweijähriger, eine Dreijährige zum älteren Geschwisterl, bedeutet das zunächst Stress. Da Flucht aus der Familie zu gefährlich wäre, bleibt nur Kampf. Selbst wenn das Kind schon älter ist und Alternativen kennt, schalten elementare Bedürfnisse wie Hunger oder Müdigkeit diese buchstäblich aus.
Eingreifen oder nicht?
Je jünger die Kinder, desto notwendiger ist das Eingreifen der Eltern im Streitfall. Dabei geht es um gutes Vorbild und altersgemäße kurze Rückmeldungen. Lange theoretische Erklärungen fruchten bei jungen Kindern nicht. Nehmen Sie lieber die Hand des Kindes, suchen Sie Augenkontakt und sagen Sie klar: „Nein, ich lasse dich nicht kratzen!“ Weil Kleinkinder noch nicht selbst Kompromisse schließen können, schlagen Sie am besten einen oder zwei vor. Manchmal bricht es das Eis, wenn einer davon lustig und völlig absurd ist. Gemeinsam zu lachen erzeugt Abstand zum Streit.
Bilderbücher und Rollenspiele mit Kuscheltieren unterstützen Kleinkinder dabei, verschiedene Strategien der Konfliktlösung kennen zu lernen. Ist der Streit schon im Gange, ist es dafür allerdings zu spät.
Kinder ab dem Vorschulalter kann man sanft anleiten, gemeinsam einen Kompromiss zu finden. Bevor Sie das tun, stellen Sie sicher, dass die Kinder den Streit tatsächlich nicht ohne Hilfe lösen können. Anzeichen dafür sind eine längere Dauer und körperliche Angriffe. So lange das nicht der Fall ist, dürfen Sie den Kindern zutrauen, selbst eine Lösung zu finden.
Wenn ja, dann wie?
Unterscheiden Sie zunächst zwischen Gefühlen und Handlungen der Kinder. Ärger und Wut sind erlaubt, wenn die kleine Schwester am mühsam gebastelten Papierflieger kaut oder der große Bruder eine Stunde später ins Bett darf! Es ist allerdings nicht angemessen, die Schwester oder den Bruder aus Ärger und Wut zu verprügeln.
Da hinter vielen Konflikten die Frage steht, zu wem Papa/Mama hält, spielen Sie lieber nicht Schiedsrichter. Beschreiben Sie, was Sie wahrnehmen: „Das hört sich an, als wärt ihr wirklich böse aufeinander.“ Lassen Sie jedes Kind seine Sicht schildern und fassen Sie neutral zusammen. Je nach Ihrer Einschätzung bleiben Sie dann entweder dabei, bis eine Lösung gefunden wurde („Habt ihr eine Idee?“) oder Sie ziehen sich zurück („Ihr findet sicher eine Lösung“).
Eine einfache, aber hilfreiche Taktik kann es sein, „den Kuchen zu vergrößern“. Geht es um Spielsachen oder Dinge, weisen Sie darauf hin, was sonst noch zur Verfügung steht. Geht es um die Zuwendung der Eltern, gibt es davon umso mehr, je besser diese ihre eigenen Wünsche im Auge behalten – statt die Ansprüche der Kinder immer in den Mittelpunkt zu stellen und langfristig unzufrieden zu werden.
Generell geht es beim Streit zwischen Brüdern und Schwestern oft um Bedürfnisse mehr als um Inhalte. Was bedeutet das? Auf den Vorwurf „Er hat mehr Pudding bekommen“ könnte man inhaltlich eingehen und die Puddingmengen abmessen. Sie können aber auch nachfragen: „Hast du überhaupt noch Hunger?“ Damit stellen Sie klar, dass Gerechtigkeit in der Familie nicht bedeutet, dass jede/r gleich viel bekommt, sondern so viel wie er/sie braucht. Diese Rücksicht auf das individuelle Bedürfnis sollte sich durch den Alltag ziehen: Vergleichen Sie Ihre Kinder nicht miteinander (auch nicht mit positiven Formulierungen), verstärken Sie den Wettbewerb nicht zusätzlich (außer im Spiel) und wenn nur das eine Kind neue Schuhe braucht, kaufen Sie nicht automatisch dem anderen auch welche.
Geschwisterstreit vorbeugen
- Schreiben Sie den Familienmitgliedern keine Rollen zu wie „die Brave“ oder „der Chaot“. Solche Etiketten werden manchmal zu selbsterfüllenden Vorhersagen.
- Beobachten Sie, worüber besonders oft gestritten wird und lassen Sie die Kinder in Friedenszeiten Regeln aufstellen, was beim nächsten Streit zu tun ist.
- Unterschreiben Sie Hausregeln zum friedlichen Umgang, die für alle gelten.
- Unterstützen Sie getrennte Aktivitäten der Geschwister. (Sie freuen sich dann aufeinander.)
- Wird immer zur ähnlichen Zeit gestritten, ändern Sie etwas am Tagesablauf.
- Wenn die Eltern miteinander streiten, ist das für Kinder eine Chance, zu lernen, wie man sich wieder versöhnt.
- Fördern Sie den Teamgeist der Geschwister – auch wenn sie sich einmal gegen die Eltern verbünden.
- Loben Sie, wenn es den Kindern gelingt, Meinungsverschiedenheiten ohne Streit zu beenden.
Die Familie ist das Übungsgelände, wo Kinder lernen, mit anderen Menschen auszukommen, eigene Wünsche und Grenzen durchzusetzen, Niederlagen zu verkraften und Kompromisse zu schließen. Wo gehobelt wird, fallen Späne: Streit unter Geschwistern ist normal und unvermeidbar. Gleichzeitig schweißt eine gemeinsame Kindheit zusammen. Viele erwachsene Geschwister verlieren diese Nähe nie, egal, wie viel sie früher gestritten haben.
Linktipp:
Geschwisterstreit-Sketch mit Comedian Martina Hill
https://youtu.be/lKzn1b4jpMQ
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