„Jede Zeit hat ihre Themen – und braucht deshalb unsere Lösungen.“ – Mit diesem Satz, den wir in Anlehnung an eine Bemerkung Viktor Frankls formulieren könnten, möchte ich meinen Beitrag zu Resilienz beginnen. Denn wir können beobachten, dass die Themen, die die Gemüter der Menschen vor mehreren Jahrzehnten bewegten, jene Themen also, die in früheren Zeiten Menschen viel Leid verursachten und ganz besonders korrekturbedürftig waren, heute nicht mehr so viel Gewicht haben. Ein Grund hierfür ist die erfolgte Korrektur der damaligen Situation. Über diese Erfolge reden wir aber heute kaum. Das ist schade, denn: zu wissen, dass man schon etwas geschafft, bewältigt und korrigiert hat, stärkt die Motivation von Menschen. Da haben wir alle viel mehr Lust und Kraft, uns dafür einzusetzen, dass die Welt dort, wo wir wirken und etwas bewirken können, etwas heller und heiler wird. Beispiele für gelungene Korrekturen sehen wir, wenn wir Fotografien von Schulklassen unserer Großeltern betrachten: erschrockene, unfreie, verängstigte Kindergesichter schauen uns da an. Manche Kinder, sie sind vielleicht 6 Jahre alt, haben ein altes Gesicht, als hätten sie noch nie die Jugend, das Unbeschwerte, die Heiterkeit erlebt. Und so war es auch damals für viele. Diese Kindergesichter finden wir (zum Glück) heute bei uns nicht mehr. Wenn ein Regisseur einen Film über diese Zeit drehen will, dann muss er in entfernte Teile Europas fahren, um dort auf alte Kindergesichter zu treffen. Und es ist zu hoffen, dass er sie bald auch dort nicht mehr finden kann.
Einige andere Beispiele von Themen, die in den letzten Jahrzehnten durch den Einsatz von Menschen, die vor uns lebten, korrigiert wurden sind: die medizinische Versorgung von Menschen, die nicht zu den Aristokraten gehören. Die Bildungsmöglichkeit von Mädchen. Die flacher gewordene Hierarchie in Ehen, Schulen und Betrieben. Die Förderungs- und Wohnmöglichkeiten behinderter Menschen. Natürlich ist in keinem Bereich alles fehlerfrei. Aber zu wissen, dass wir heute nicht nur in einer Mangelsituation leben, zu wissen, dass wir auf Erreichtes bauen und zugleich Notwendiges korrigieren können und müssen, ist eine Ermutigung und eine Verpflichtung zugleich.
Das Wort Resilienz kommt ursprünglich aus der Physik. Das ursprüngliche lateinische Wort ist: re-salire, zurückspringen. Gemeint ist das Zurückspringen eines Materials nach einer Belastung oder Verformung in ihre ursprüngliche Form. In der Psychologie bezeichnen wir mit diesem Begriff die Fähigkeit des Menschen, Belastungen, schwierigen Lebenssituationen standhalten, manchmal sogar an ihnen wachsen zu können. Meine Aufgabe ist nun, die Kraftquellen, aus denen wir für unsere Widerstandsfähigkeit schöpfen können, Ihnen darzustellen. Denn Mut, Sinn, Selbstwertgefühl sind Epiphänomene. Das heißt: ihre Entstehung braucht einen Grund.
Die 5 wichtigsten Gründe (Kraftquellen) sind:
1. Gute Beziehungen
Die Erfahrung, dass man von anderen Menschen geliebt, geschätzt und unterstützt wird, gehört natürlich zu den wichtigsten Erfahrungen unseres Lebens. Ebenso die Wahrnehmung, dass man selber andere Menschen mögen, schätzen und ihnen eine Unterstützung sein kann. Da während dieser Tagung schon viel Wissenswertes über diese Quelle gesprochen wurde, möchte ich nur einige Informationen hinzufügen: Gute Kommunikation schafft immer gute Beziehungen. Das bedeutet, dass eine Verbesserung der Gesprächsfähigkeit von Kindern, Jugendlichen und Eltern immer auch eziehungsstärkend ist. Dazu gehört die Fähigkeit, einander Fragen stellen, zuhören zu können und miteinander freundlich und wertschätzend umgehen zu können. Das kann trainiert werden, zumindest bis zu einem bestimmten Maße. Manchmal treffen wir auf Menschen – es sind häufiger die Knaben in der Schule und Männer mit höheren „Alphaanteilen“ im späteren Leben, die nicht leicht und nicht sehr gut kommunizieren können. Gute Beziehungen entstehen bei diesen Menschen nicht durch das Gespräch – es wird von ihnen eher gemieden, – vielmehr durch das gemeinsame Tun. Wissen wir um diese Tatsache, dann ist es möglich, uns ohne Verbitterung über die nicht vorhandene gute Kommunikation, viel mehr auf die Handlungsebene einzulassen und mit den Betroffenen etwas gestalten, bauen, planen oder verbessern. Interessanterweise entsteht manchmal während des gemeinsamen Tuns ein gutes Gespräch.
An dieser Stelle möchte ich auf ein Thema, das in den letzten Jahren immer mehr Menschen, – Eltern, aber auch Kinder und Jugendliche – erfasst, verweisen: Es handelt sich um das radikal zunehmende Maß an Beziehungsunsicherheit. Sie kostet immer mehr Menschen immer mehr Kraft und ist ein häufiger Grund für die steigende Zahl von Angststörungen. Bleibt meine Freundin noch länger bei mir? Trennt sich mein Mann von mir? Bin ich noch attraktiv, wenn ich krank werde? Lässt man sich von mir scheiden, wenn ich weniger Geld/Erfolg habe? So und ähnlich lauten die Fragen, die sich Jugendliche, Erwachsene und mittlerweile auch ältere Menschen immer häufiger stellen. „Jede Zeit hat ihre Themen und braucht deshalb unsere Lösungen“ – stellten wir es anfangs fest. Nun, diese Form der Beziehungsunsicherheit ist ein wirklich neues Thema – wir kennen es seit etwa 60 Jahren – und dieses Thema bräuchte dringend unsere Lösungen. Alle wichtigen Ideen hierfür darzustellen würde jetzt den Rahmen dieses Textes sprengen. Eine Idee, welche Elternbildner mit Eltern, also mit Müttern oder Vätern oder mit Jugendlichen als Prophylaxe, besprechen können, sollten wir hier auf jeden Fall beschreiben. Sie liegt in der, für die Beziehungsgestaltung wichtigsten, Frage verborgen: Was ist Liebe für Sie? Wann wissen Sie, dass Sie lieben oder geliebt werden?
Im folgenden lesen Sie die häufigsten Antworten und zugleich die in ihnen liegenden Handicaps:
„Liebe ist ein großes Gefühl. Sie ist Leidenschaft.“ Das ist sie sicherlich auch. Aber was, wenn die Endorphinausschüttung nachlässt, wenn die Leidenschaft nach einiger Zeit nicht mehr so glüht (das ist eine biologisch verursachte Tatsache). Wenn die Liebe also nicht gefühlt wird? Ist sie dann wirklich vorbei? Ist da Zeit zu gehen, oder Zeit, gehen zu lassen? Wer so denkt, kommt bald zu einem Verhalten, das ich Beziehunghopping nenne. Immer und immer wieder wiederholt sich dieses „Programm“. Nur die Akteure ändern sich. Das Beziehungsmuster bleibt gleich. Und mit den Jahren wird die Lebensfrustration immer größer.
„Liebe als Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen“: Gewiss, auch das ist Liebe. „Ich gebe dir Sicherheit und du schenkst mir Geborgenheit. Du erlebst mit mir Abenteuer und ich erlebe mit dir Erotik. Ich mache dein Leben sorglos und du zauberst Lachen in mein Leben“ – so oder ähnlich lauten da unsere bewussten oder unbewussten Vorstellungen von der Liebe. Wir schenken in diesem Falle einander ein Lebensgefühl, das der andere braucht und gerne annimmt. Eine wunderbare Sache. Was aber, wenn der andere krank wird oder arbeitslos oder einfach erschöpft und er seinen Teil nicht mehr leisten kann? Was, wenn unsere Sehnsucht nach Geborgenheit zu wenig gestillt oder unser Lachen, unsere Fähigkeit, zärtlich zu sein, aufgrund einer Kränkung reduziert wird? Was, wenn wir das erwünschte Lebensgefühl nicht mehr erhalten? Oder wenn ein anderer (eine andere) mehr geben kann als wir? Ist dann die Liebe vorbei? Ist es dann Zeit zu „wechseln“, weil es nicht mehr „passt“? In diesem Falle brauchen Paare etwas länger für die Trennung. Die Tatsache aber bleibt: Mit der Zahl der Trennungen wächst die Beziehungsunsicherheit, das Vertrauen schwindet. Die Angst steigt. Das kostet unendlich viel Kraft und Aufmerksamkeit. Kraft und Aufmerksamkeit, die Paare für ihre Kinder und für die gute Bewältigung ihres alltäglichen Lebens bräuchten.
Erst, wenn auch die nun folgende Definition Platz im Liebesverständnis eines Menschen hat, wird eine Beziehung glücken:
„Liebe ist auch eine Entscheidung“: Liebe ist nicht nur ein Gefühl und nicht nur ein schönes Geben und Nehmen. Sie ist auch Entscheidung. Eine Entscheidung, einander ein Weggefährte zu sein (zu werden). Und dies auch dann, wenn das Gefühl gerade nicht gespürt wird oder wenn der andere das, was wir gerade brauchen, uns nicht geben kann. Erst da werden die Fallstricke der Psyche (Abhängigkeit vom Liebesgefühl, Abhängigkeit von Bedürfnisbefriedigung durch einen anderen) neutralisiert. Im Entschluss, miteinander die Wege des Lebens zu gehen, liegt auch der Entschluss, dass man im Gegensatz zu kindlichen oder pubertären Beziehungsgestaltung, einander in Augenhöhe begegnet. Ein Erwachsener spricht mit einem Erwachsenen. Das aber haben wir als Kinder und Jugendliche nicht gelernt. Das ist die Aufgabe des Erwachsenwerdens. Das ist ein Prozess des Reifens.
2. Erfahrung von Kompetenz
Die Erfahrung, dass man etwas kann, dass man in dieser Welt notwendend wirken kann, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist eine weitere Kraftquelle. Auch da gibt es einiges zu beachten: Zu wissen, dass die eigenen Bemühungen nicht umsonst gewesen, dass man bestimmte Dinge gut macht oder gemacht hat, stärkt die Motivation von Menschen, es weiter zu versuchen. Für manche Eltern ist es hilfreich zu sagen: Sie sind eine so gute Mutter/ ein so guter Vater, wie Sie es im Augenblick sein können. Darüber hinaus gibt es Gelegenheiten, die es Ihnen ermöglichen, den Umgang mit Ihren Kindern leichter, schöner zu machen…
Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit wird auch durch Aufgaben gestärkt, die Untätigkeit unterbrechen, die einen fordern, aber zugleich bewältigbar sind. Je jünger allerdings das innere Reifealter eines Menschen ist, umso eher braucht er nach erfolgter Leistung eine positive Rückmeldung oder Erfolgserlebnisse.
3. Ideale, Ziele, Werte. Das Wissen um einen Sinn
Zu wissen, dass das, was man im Augenblick als unangenehm, unbequem oder gar schmerzhaft erlebt, später vielleicht als eine sinnvolle Erfahrung das Leben bereichert und Entscheidungen gut korrigiert – dieses Wissen hat eine tiefe psychohygienische Bedeutung. Ebenso eine Beobachtung, die Viktor Frankl so formulierte: Das Wissen um eine sinnvolle Aufgabe hat gesundheitsfördernde und krankheitspräventive Wirkung.
Ebenso sind jene Ziele, die von einem Menschen als Sinn-Ziele wahrgenommen werden, besondere Kraftquellen. Auch deshalb, weil sie den Betroffenen von der Abhängigkeit der Außenbestätigung entbinden.
4. Ethische Selbstbewertung
Damit ist die Frage verbunden: Was bin ich für ein Mensch? Diese Frage ist in jedem von uns vorhanden: in einem Kind ebenso, wie in einem Straftäter oder in einem alten Mann/in einer alten Frau. Die gesündeste Antwort kann man in amerikanischer Art so formulieren: Ich bin OK. Du bist OK. In den jungen Jahren und in den unsicheren Zeiten unseres Lebens brauchen wir für diese Antwort den Zuspruch anderer Menschen. Viel nachhaltiger ist es, wenn wir es erfahren können, dass wir ein Gut für diese Welt sind. Manchmal kommt der stärkende Zuspruch wie eine heilsame Antwort aus einer tiefen, religiösen Dimension.
5. Vitalität (der grüne Becher)
Die körperlich-seelische Vitalität können wir unterstützen beispielweise durch Bewegung, Spiele, kreative Gedanken, kreatives Tun oder Planen, miteinander Singen, Musizieren und Tanzen, Naturerfahrungen, Ruhezeiten, Lachen, ein Lebenstempo, das dem Menschen entspricht usw. Sehr wichtig ist es hier, auf die Tatsache zu verweisen, dass die heutige Architektur aus dunklem Glas-, Stahl- und Betonplatten den Menschen Vitalität raubt, ebenso jede Stadt, die täglich hunderttausende Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren durch ihre trostlosen Beton- und Asphaltstraßen schleust. Besonders in Städten müssten wir durch unseren Einsatz Lebensräume schaffen, auf die unsere Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen und unsere alte Menschen treffen, nachdem sie ihren Wohnraum verlassen: Dieser sollte hell, bunt, einladend, interessant und begegnungsreich sein. Eigentlich müssten wir unsere Jugend aufrufen: Geht hinaus auf die Straße! Gestaltet Euren Gehsteig! Stellt Baumtröge auf, Stühle, Blumen, Bänke, schafft Spielmöglichkeiten, Gesprächsinseln, Begegnungsecken vor euerer Haustüre! Motiviert Eure Eltern für die Anschaffung von Elektrofahrzeugen. Belebt Euren Lebensraum, macht ihn schön für Freunde, Fremde – und für Euch selbst! Die Welt ist draußen und nicht in den Kinderzimmern. Adoptiert diese Welt, sie braucht Eure Kreativität.
So hätten wir weniger Sorge und weniger Ausgaben mit der, im Augenblick so rasant zunehmende, Medienabhängigkeit unserer Jugendlichen, weil diese Ersatzbefriedigung eines Tages überflüssig wäre. Ebenso würden wir fast spielerisch die Vereinsamung alter Menschen unterbrechen. Vielleicht ist die Tatsache, dass sich unsere Jugend in den Kinderzimmern in eine virtuelle Welt versenkt, ein gesunder Protest gegen den Lebensraum, den wir ihnen zwischen Autostraßen, Betonhäusern und Glasschaufenstern überlassen? Vielleicht unterschätzen wir unsere Jugend hinsichtlich ihrer Wahrnehmungsfähigkeit von Sinn und hinsichtlich ihrer Sehnsucht nach Kreativität.
Jede Zeit hat ihre Themen – und braucht deshalb unsere Lösungen. So begannen wir die Gedanken über die Kraftquellen des Lebens. Die Probleme, die heute gelöst werden wollen und nur von uns gelöst werden können, können wir nur gemeinsam angehen. „Die Welt verändert sich nicht durch große Gesetze und Maßnahmen, sondern durch die Taten gleich gesinnter Menschen“, stellte einmal Albert Schweitzer fest. So ist es auch mit den Themen unserer Zeit.
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