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Leben mit Kindern im Spannungsfeld von Ermöglichen, Ermutigen / Bewahren und Schützen

von Mag. Katharina Kamelreiter

Elternbildung
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Elternbildung

Erziehen und Leben mit Kindern bewegt sich immer im Spannungsfeld von Ermöglichen, Ermutigen und Bewahren und Schützen. Es ist die grundlegende Aufgabe von uns Eltern, den Kindern eine sichere Umgebung zu schaffen, in der sie sich selbsttätig und ihrem Entwicklungsstand gemäß frei bewegen und bewähren können.
Wir leben in einer Zeit, in der es vielen von uns möglich ist, den Alltag des Kindes bestmöglich zu organisieren, kindgerecht aufzubereiten und Rücksicht auf die kindlichen Bedürfnisse zu nehmen – das ist gut so und gehört zu den essentiellen Rechten der Kinder. Manchmal hat es jedoch den Anschein, dass wir aus gutem Glauben, das Kind schützen zu müssen, ein wenig übertreiben und damit die Entwicklung des Kindes auch einschränken können.
Kinder sind von Natur aus neugierig, entdeckungsfreudig und lernen aus ihren Erfahrungen, Gefahren richtig einzuschätzen. Das beginnt spätestens in dem Moment, wo Babies mobil werden und eigenständig in der Lage sind, ihre nähere Umgebung zu erkunden. Ein gesundes Baby braucht in den ersten Monaten seines Lebens keine spezielle Förderung, um in seiner Bewegungsentwicklung voranzukommen. Dazu braucht es für das Kind lediglich Zeit und adäquaten Raum, sich seines Körpers, seiner körperlichen Fähigkeiten bewusst zu werden. Immer wieder werden verschiedene Bewegungsabläufe ausprobiert, das fängt meistens mit dem Lagewechsel vom Rücken auf den Bauch an, geht in Fortbewegung (robben, krabbeln etc.) über, selbständiges Aufsetzen und bald ziehen sich die Kinder an festen Gegenständen auf, schieben diese durch die Gegend (als „Gehhilfe“) und irgendwann läuft uns das Kind selbständig entgegen. 

Wir können darauf vertrauen, dass sich all diese Fähigkeiten ganz von selbst und für das jeweilige Kind zum richtigen Zeitpunkt entwickeln und kein großes Zutun von außen notwendig ist. Gerade dann, wenn ein neuer Entwicklungsschritt ansteht, sind die Kinder oft ungeduldig und missmutig. Diese Ungeduld ist einer der Motoren, weiter zu kommen. Liegt ein Kind auf dem Bauch und möchte einen Gegenstand erreichen, der außerhalb seiner Griffweite liegt, sollten wir nicht sofort zu Hilfe eilen, sondern dem Kind die Chance geben, es selbständig zu versuchen. Erst wenn klar ist, dass es das Kind nicht schafft und die Frustration zu groß wird, sind wir als Erwachsene da, um Unterstützung zu geben. 

Wichtig in dieser Entwicklungsphase ist die Sicherheit der Umgebung – in den meisten Fällen ist es die elterliche Wohnung oder die Kinderkrippe, in der die grundlegende Bewegungsentwicklung vor sich geht. Um etwaige Gefahren zu eliminieren, empfiehlt es sich, die Wohnung einmal aus Babyperspektive zu betrachten, tatsächlich auf den Knien bzw. krabbelnd die Umgebung zu inspizieren. Man sieht dadurch Gefahrenquellen, die aus Erwachsenenperspektive nicht unbedingt ins Auge springen: lose Kabeln, Gegenstände, die herunterfallen, wenn man daran zieht (sich daran aufziehen versucht), Bücherregale, die nicht stabil genug sind, um sich daran hochzuziehen, scharfe Kanten in Schläfen- und Augenhöhe, „Abgründe“ durch Stiegengeländer, zu niedrig verstaute Putzmittel, ungesicherte Steckdosen etc. Dass diese Gefahren ausgeschlossen werden, ist selbstverständlich und aber auch, dass dem mobil werdenden Kind ein möglichst großer Bewegungsradius und damit Autonomie zugestanden wird. Kinder brauchen keine künstliche Umgebung, sondern eine Welt, die ihrer Neugier und ihrem Entdeckungswillen entspricht, die aber auch die Bedürfnisse der Erwachsenen und älteren Geschwister berücksichtigt. Grenzen im vernünftigen Maß helfen allen Beteiligten. Diese Grenzen zu erfahren und zu verinnerlichen geht nicht aufs erste Mal, sondern braucht Zeit und Aufmerksamkeit.

Viel interessanter als teures, pädagogisches Spielzeug ist für Kleinkinder die Teilhabe am Alltag: Küchenkastln ausräumen (gefährliche Gerätschaften für die Kleinkindphase mehrere Etagen höher unterbringen!), mit Töpfen und Kochlöffeln spielen, dabei sein, wenn die Eltern kochen (natürlich achtet man auch da auf die Sicherheit!), Wäsche aufhängen – all dieses Tun bietet den Kleinkindern ein unendlich großes Repertoire an Lernmöglichkeiten und Entwicklungsräumen. Alltagsdinge haben oft eine viel größere Attraktivität als Spielzeug (mag es noch so gut und teuer sein!). Mit dem Willen, seinen Familienalltag an die kindlichen Bedürfnisse anzupassen, ein bisschen mehr Zeit einzuplanen und bei der Perfektion ein wenig zurück zu fahren, können wir eine Umgebung schaffen, die für die kindliche Entwicklung nachhaltiger ist als spezielle Förderprogramme.

Kinder brauchen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir die gesamte Wachzeit unserer Babies und Kleinkinder damit verbringen, uns gezielt mit ihnen zu beschäftigen. Regelmäßiges gemeinsames Spielen, Singen, Bücher anschauen/lesen, kuscheln stärken die Beziehung und sind eine der Grundlagen für die gesamte Entwicklung. Kinder brauchen aber auch genügend Zeit, um sich autonom und selbsttätig zu beschäftigen. Auch hier haben Kinder die Gabe, die Aufmerksamkeit der Eltern genau dann einzufordern, wenn sie es wirklich brauchen. Diese Fähigkeit kann allerdings recht schnell verlernt werden. Hat ein Baby keine Zeit, um sich mit sich selbst und seiner unmittelbaren Umgebung in Ruhe zu beschäftigen, weil es permanent „bespielt“ wird, wird es immer schwieriger, aus sich selbst heraus eine Beschäftigung zu finden. Wenn wir uns als Eltern zurücknehmen und ein momentan zufriedenes, gut beschäftigtes Kind in seiner Tätigkeit (mag diese Tätigkeit für uns Erwachsene auch noch so sinnlos erscheinen) nicht stören, tragen wir maßgeblich dazu bei, die Konzentrationsfähigkeit unseres Kindes zu stärken.

Aufmerksamkeit (jenseits der Befriedigung der Basisbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, emotionale Bindung) bedeutet immer auch, zu wissen, dass mein Kind in einer sicheren Umgebung seinen Entwicklungsbedürfnissen ungestört nachgehen kann.
Sobald Kinder mobil sind, versuchen sie, alle möglichen Dinge zu erklettern und erklimmen. Dass es dabei zu  Stürzen kommt, liegt in der Natur der Sache. Wir tun der kindlichen Entwicklung keinen guten Dienst, wenn wir die (kleineren) Gefahren von vornherein ausschalten bzw. den Kindern keine Chance geben, diese Herausforderungen zu meistern. Wichtig ist, im Falle des Falles da zu sein, und das Kind aufzufangen. Wenn wir unserem Kind genügend Autonomie zugestehen, wird es immer wieder kleine Stürze geben. Diese sind durchaus wichtig, um ein gutes Körpergefühl zu entwickeln, das dazu beiträgt, Gefahren halbwegs realistisch einschätzen zu lernen. Ein Grundsatz der Pikler-Pädagogik beschreibt dies sehr treffend: kleine Gefahren zulassen, um größere zu verhindern. Bestrebungen, dem Kind durch das Tragen eines Helms viele blaue Flecken und Beulen zu ersparen, sind kontraproduktiv, weil es das Kind daran hindert, die unangenehmen Erfahrungen kleinerer Verletzungen zu spüren und daraus seine Schlüsse zu ziehen (beim Schifahren und Radfahren sind Helme natürlich ein notwendiger, unverzichtbarer Schutz!). Ein Kind, das nie die Chance hatte, einen Tisch zu erklettern oder auch einmal vom Sofa zu purzeln, hat keine Möglichkeit, die Folgen seines Tuns und seiner Fähigkeiten einschätzen zu lernen. Die Natur hat damit vorgesorgt, dass in dieser Entwicklungsphase die Fontanelle am Kopf noch nicht geschlossen ist und trägt mit dazu bei, dass es bei „normalen“ Stürzen kaum zu Kopfverletzungen und Gehirnerschütterungen kommt. Wenn die Fontanelle zugewachsen ist, fällt das Kind nicht mehr so häufig auf den Kopf, da es gelernt hat, sich entsprechend zu bewegen. 
Gerade kleine Kinder wollen oft hoch hinaus (Spielplatzrutsche für größere Kinder, Bäume) – wenn das aus eigener Kraft nicht geht, sollte auch von den Erwachsenen keine Hilfestellung geleistet werden, das Objekt der Begierde zu besteigen, auch wenn das mitunter zu kindlichen Trotz- und Frustreaktion führen kann. Andererseits ist jeder Baum, der aus eigener Kraft bestiegen werden kann, eine wunderbare Herausforderung, die uns Eltern oft den Angstschweiß spüren lässt. Wenn ich die Fähigkeiten meines Kindes gut einschätzen kann, werde ich den richtigen Zeitpunkt finden, um einzugreifen. Nicht nur die Kinder lernen permanent, sich selbst einzuschätzen, auch wir Eltern! Wenn ich mir Zeit nehme und mein Kind dabei beobachte, wie es sich bewegt, wie es Hindernisse überwindet, welche „Hilfsmittel“ es sich holt, kann ich mit der Zeit immer besser einschätzen, was ich meinem Kind zutrauen kann und wann es meiner Intervention bedarf.
Kinder lernen Gefahren durch Erfahrung und durch intellektuelle Reife einzuschätzen. Das Gefahrenbewusstsein kann sich aber erst dann so richtig entwickeln, wenn Tod als „endgültiges Aus“ begriffen werden kann. Dies ist aufgrund der intellektuellen Entwicklung erst ca. ab dem fünften bis sechsten Lebensjahr möglich. Gefahren, die für uns Erwachsene offensichtlich und bedrohlich sind, können von kleinen Kindern nicht als solche wahrgenommen werden. Einem Kleinkind, das mit dem Laufrad am Gehsteig dahin flitzt, kann grundsätzlich nicht vertraut werden, an der Querstraße halt zu machen, auch wenn dies noch so oft geübt und angeordnet wurde. Da muss nur auf der anderen Straßenseite etwas auftauchen, das das Interesse des Kindes anzieht. Es ist sich in diesem Moment der Gefahr, in die es sich begibt, in keiner Weise bewusst – und es hat schon gar nichts mit „Ungehorsam“ zu tun, wenn es so schnell als möglich diesem Interesse nachgeht. In solchen Situation sind wir als Eltern verantwortlich, das Kind so weit zu schützen, dass es von vornherein gar nicht in diese Gefahr kommt.
Auch Wasser birgt eine Gefahr, die für ein Kleinkind nicht begreifbar ist. Erst wenn es sich bewusst ist, dass man Ertrinken und somit tot sein kann, werden die oft lebensrettenden Aufwärtsbewegungen gemacht, wenn es unter Wasser kommt. Kinder, die schon sehr früh schwimmen können, haben einen gewissen Schutz, dieser reicht in keinem Fall aus, auch in seichterem Wasser nicht trotzdem zu ertrinken.
Ein Thema, das viele Eltern beschäftigt, ist das Schlafen. Die meisten Kinder schlafen im ersten Lebensjahr nicht durch, manche werden nur zum Stillen munter, manche versuchen zeitweise die Nacht zum Tag zu machen und alleine im eigenen Zimmer zu schlafen geht bei vielen Babies die ersten Monate gar nicht. Schlafen ist ein Grundbedürfnis und jeder Mensch hat einen ganz eigenen Schlafrhythmus, der sich erst nach und nach einstellt. Das Bedürfnis, nahe bei den Eltern zu schlafen, ist ein evolutionäres Relikt, das die Überlebenschancen erhöht hat. Kultur hat sich in dieser Hinsicht schneller entwickelt als Natur. Dass vielen Kindern ein eigenes Kinderzimmer zum Schlafen zur Verfügung steht, ist – auch in unseren Breiten – noch gar nicht so lange üblich. Die Entwicklung hin zum selbständigen Schlafen im eigenen Bett und Zimmer ist eine, die mehr oder weniger von selber passiert, mit der nötigen Unterstützung und Gewährung der Eltern! Sehr interessante Gedanken dazu sind in den Publikationen von Herbert Renz-Polster nachzulesen (zB.: Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung. Kösel, München 2011). 
In unserer Lebenswelt gibt es genug Gefahren, vor denen wir unser Kind bestmöglich schützen können und müssen (Wasser, Fensterstürze, Verkehr). Kinder brauchen aber auch genügend sinnvolle Freiräume, um sich die Welt eigenständig und damit nachhaltig aneignen zu können. Ein Kind, das selbständig laufen kann, braucht genügend Möglichkeit, dies auch außerhalb der eigenen vier Wände auf möglichst unterschiedlichem Boden zu tun. Dass es manchmal aus zeitökonomischen Gründen notwendig ist, ein vierjähriges Kind mit dem Kinderwagen durch die Stadt zu transportieren, wissen wir alle, die Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen haben. Es eröffnet dem Kind aber ungemein wertvolle Entwicklungsräume, wenn es möglich ist, die Alltagswege manchmal auf den eigenen Füßen zu bewältigen, einem im Wind dahintreibenden Blatt zu folgen, den Ameisen zuzusehen oder einfach einmal nur zu schauen, was sich da rund herum so tut. 
Ein weiterer Entwicklungsraum, der fast jedem Kind zur Verfügung stehen könnte, ist der Schulweg. Wenn ein Kind die gesamte Volksschulzeit und womöglich noch bis in die Unterstufe von den Eltern mit dem Auto in die Schule gefahren wird, fehlt eine maßgebliche Entwicklungsmöglichkeit für Verantwortung, Kompetenz, sich im öffentlichen Raum zurecht zu finden, Einschätzung von Gefahren, soziales Verhalten und vieles mehr. Wann das Kind dazu im Stande ist, den Schulweg alleine zu meistern, hängt von mehreren Faktoren ab. Eine gute Vorbereitung, das langsame Hinführen zur Selbständigkeit und das Vertrauen in die Kompetenz des Kindes werden den richtigen Zeitpunkt bestimmen. Noch ein Wort zur Schultasche: Kinder sollten nicht zu schwer tragen. Ihnen aber ganz automatisch die Schultasche abzunehmen, wenn sie abgeholt werden, ist zu überdenken. Wichtig ist, den Inhalt der Schultasche so weit im Blick zu haben, dass nicht unnötiges Gewicht herumgetragen wird, die Verantwortung für die Schultasche kann aber beim Kind bleiben. 

Prinzipiell können wir uns daran halten: alles was ein Kind aus eigener Kraft schon kann, sollte es auch selbst tun und ausführen. Wir helfen als Eltern und Erwachsene dann, wenn es aus den unterschiedlichsten Gründen notwendig ist (Zeitdruck, emotionaler Stress etc.).
Freiräume sind wichtig. Es fällt uns Eltern manchmal schwer, diese den Kindern zuzugestehen, aus Sorge und auch weil wir die Kompetenzen, die unsere Kinder haben, oft nicht auf den ersten Blick sehen. Ein wenig Mut ist da schon notwendig, wenn wir den Kindern das richtige Maß an Verantwortung übergeben. Selbständigkeit, Selbstwirksamkeit und Autonomie braucht Zeit, Erfahrung und Möglichkeiten. Wenn wir über die Entwicklung reflektieren, die Kompetenzen der Kinder wahrnehmen und richtig einordnen, werden wir immer wieder sehen, dass viele Entwicklungsschritte ohne unser Zutun gemacht werden. Sicherheit, Liebe, Geborgenheit und Vertrauen sind die Basis, auf der sich unsere Kinder zu selbständigen Menschen entwickeln können.


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