„Was ist es denn?“
… eine der wohl am häufigsten gestellte Frage nach der Geburt eines Kindes, die in manchen Fällen jedoch nicht so einfach mit „Mädchen“ oder „Bub“ beantwortet werden kann: 1-2 von 1000 Kindern kommen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale zur Welt!
Jedes Kind wird mit seinem eigenen, individuellen Geschlecht geboren – und manche kommen mit einem eindeutig „intergeschlechtlichen“ zur Welt, d.h. sie sind nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Normgeschlecht zuordenbar, haben Anteile beider Normgeschlechter, passen irgendwie nicht so recht in unsere Vorstellung dieser beiden Pole – und bringen unser „Weltbild“ ins wanken.
Dabei ist ein zwischengeschlechtliches Kind in der Regel kein medizinischer Notfall! Es passt halt nur nicht in unser starres Zweigeschlechterdenken. Und: es verunsichert Eltern zutiefst! Haben diese doch bis dahin wahrscheinlich noch nie etwas über Intersexualität oder Intergeschlechtlichkeit gehört – ein nach wie vor extrem stark tabuisiertes Thema in unserer Gesellschaft.
Jede*r sollte davon ausgehen, eine intergeschlechtliche Person zu kennen, ohne es zu wissen, da darüber nicht gesprochen wird. Der Großteil der Intersex-Personen (85 %) wird nämlich nicht sofort bei der Geburt diagnostiziert, sondern entwickelt sich im Lauf des Lebens, etwa in der Pubertät: etwa wenn Mädchen „vermännlichen“ (Stimmbruch, Ausbleiben der Regel, Klitoriswachstum…) oder Burschen „verweiblichen“ (Brustwachstum, Ausbleiben von Bartwucht, Penislängenwachstum): Wenn Hormone eine körperliche Veränderung verursachen, die einem regelrechten Geschlechtswechsel gleichkommen kann. D.h. Intersex ist eigentlich ein Regenschirmbegriff für all jene Personen, deren Körper in irgendeiner Art nicht ins binäre Geschlechtersystem passen: dies kann die Genitalien betreffen, aber auch die Hormone, die Keimdrüsen (Hoden, Eierstöcke) oder den Chromosomensatz. Es geht in erster Linie um körperliche Variationen.
Auch heute noch wird der Großteil der Intersex-Neugeborenen medizinisch (chirurgisch/hormonell) „der Norm angepasst“. D.h. ihre gesunden Körper werden „korrigiert“: man entfernt oder designt alles, was scheinbar nicht zum Körper des Kindes gehört – und zwar äußere und innere Geschlechtsteile! Das Entfernen der gesunden Keimdrüsen (sprich: „Kastration“) hat die lebenslange Einnahme körperfremder Hormone und die Unfähigkeit zur Fortpflanzung zur Folge. Viele Betroffene haben so ihr Geschlecht, ihre Identität verloren und stecken in einem geschlechtlichen Zwangskorsett. Ein Hormonhaushalt lässt sich nicht operieren. Oder, anders formuliert: Wer als Baby bspw. zu einem Mädchen gemacht wurde, in der Pubertät aber merkt, dass er ein Junge ist, muss trotzdem als Mädchen leben. Was weg ist, ist weg! Interessensverbände kämpfen deshalb seit Jahren für ein gesetzliches Verbot der geschlechtszuweisenden und -verändernden Zwangsoperationen im Kindesalter und plädieren dafür, Kinder so aufwachsen zu lassen, wie sie sind. Sie können sich später – informiert und persönlich zustimmend – immer noch entscheiden, ob sie etwas an ihrem Körper verändern möchten, oder nicht. Alles andere verletzt Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung.
In Österreich muss einem Kind binnen 2 Wochen nach der Geburt ein Geschlecht zugewiesen werden. Hier können Eltern nur zwischen weiblich und männlich entscheiden. Eine derartige Entscheidung ist jedoch keineswegs an eine chirurgische „Angleichung“ gekoppelt. Kinder können einem Geschlecht zugewiesen werden, ohne ihre Körper zu verändern – dies bringt nicht nur den Vorteil mit sich, dass sich Kinder später selber entscheiden dürfen, ob sie den Eintrag oder etwas an ihrem Körper verändern möchten; es erspart ihnen auch traumatisierende Eingriffe in ihre körperliche Integrität und ermöglicht ihnen eine „offene Zukunft“. Es bedarf jedoch großer Stärke, wenn frischgebackene Eltern sich gegen die Meinung von medizinischem Personal entscheiden, ihr Kind bedingungslos zu lieben – auch wenn es nicht der „Norm“ entspricht (übrigens entsprechen die Genitalien laut ISNA – Intersex Society North America – bei einem von 100 (!) Neugeborenen nicht der medizinischen Norm!).
Eltern sollten wissen, dass es sein kann, ein völlig gesundes Kind zur Welt zu bringen, das nicht in die Zweigeschlechternorm passt. Und es ist wichtig, sich zu vernetzen – man ist hiermit nicht alleine! (Siehe hilfreiche Links) Intergeschlechtliche Kinder sind kein medizinischer Notfall! Ihre Eltern brauchen jedoch psychosoziale Unterstützung.
„Jedes Kind weiß, dass Schnecken Zwitter sind, jedes Kind sollte wissen, dass auch Menschen Zwitter sein können“ (Alex Jürgen, österreichischer Inter*Aktivist)
Intersex ist eine extrem tabuisierte Realität, das Wissen hierüber sollte dringend in die Gesellschaft (zurückkehren), damit der Variantenreichtum der Natur nicht als Abartigkeit gesehen wird, sondern ganz selbstverständlich auch Inter*Menschen die Wertschätzung und Teilhabe am sozialen Leben erfahren dürfen, wie alle anderen auch.
Die Möglichkeit, einen dritten Geschlechtseintrag seit 2019 zu wählen, wird der Thematik hoffentlich zu mehr Öffentlichkeit und Entdramatisierung verhelfen.
Begrifflichkeiten
Der Terminus Intersexualität wird oft abgelehnt, weil das Wort Sexualität im deutschen Sprachgebrauch mit „Begehren“ gleichgesetzt wird (homo-/hetero-/bisexuell) – bei Intersex handelt es sich jedoch nicht um eine sexuelle Orientierung, sondern vorrangig um Variationen der Geschlechtsmerkmale und evtl. auch um die sexuelle Identität. Inter*Personen können sich wahrnehmen als weiblich / männlich / „dazwischen“ / weder noch / etwas ganz Anderes….
Der Stern* (Asterisk) soll Raum für all jene Personen in der Schriftsprache öffnen, die sich dem Zweigeschlechtersystem nicht zuordnen können oder wollen.
Der Begriff „Zwitter“ sollte von nicht Inter*Menschen nicht verwendet werden. Er war jedoch bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein gebräuchlicher Begriff, wie auch Hermaphrodit.
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