Mediale Welten
Autor: Wolfgang Kostenwein
Sexualität ist in den Medien omnipräsent, Pornos sind relativ leicht zugänglich, Nacktfotos werden via Handy ausgetauscht. Daher sind Schlagzeilen rund um die „neue, sexuell verwahrloste Generation“ sehr präsent und machen immer wieder Druck. Druck auf Eltern, PädagogInnen und andere Bezugspersonen.
Aber auch Druck auf die jeweils aktuelle Jugendgeneration. Die vorgestellten Prognosen und Kausalitäten ähneln sich: Durch die medialen Möglichkeiten, kommen Jugendliche nicht nur recht einfach mit Pornos in Kontakt – die neuen Medien laden auch zum Austausch von intimen Fotos und Filmen ein, gaukeln eine falsche (sexuelle) Beziehungswelt vor. Dadurch entsteht Orientierungslosigkeit, Zügellosigkeit, Gefühlslosigkeit, die Einhaltung sozialer Grenzen fällt weg und bisher als hoch angesehene moralische Werte, allen voran die monogame Zweierbeziehung, werden in Frage gestellt. Der drohende Zeigefinger verweist auf „Sexuelle Verwahrlosung, Vermehrung der sexuellen Gewalt und Beziehungsunfähigkeit“.
Tatsache ist: Kinder und Jugendliche, die jetzt aufwachsen, haben komplett andere Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und der sozialen Kontaktmöglichkeiten als die jeweilige Eltern- bzw. Großelterngeneration. War es für die Kinder der 70er Jahre Thema, welche Familie einen Fernseher zu Hause hatte und ob und wann dieser genutzt werden durfte, so ist die Kommunikation, wie auch die Möglichkeit sich medial zu informieren durch den persönlichen Besitz eines Smartphones oder eines Computers weg vom Wohnzimmer direkt in die Kinderhand gewandert. Ein ziemlicher großer Schritt.
Kinder und Jugendliche wachsen heute mit technischen Möglichkeiten der Kommunikation und Information auf, die um vieles komplexer sind als noch vor etlichen Jahren. Ehrlicherweise muss aber zugegeben werden, dass die Kinder der 70er Jahre ebenso mit weitaus komplexeren technischen Möglichkeiten der Information und Kommunikation aufwuchsen als ihre Eltern- oder Großelterngeneration.
Provokant formuliert könnte man also behaupten, dass die aktuelle Elterngeneration, sofern sie sich lediglich auf die Erfahrungen der eigenen Kindheit bezieht, grundsätzlich unzureichend vorbereitet ist. Dies gilt jedenfalls für den Umgang mit Internet, Smartphone und Co.
Im Grunde genommen verhält sich diese „Generation Porno“ demnach sehr adäquat. Eine dem Entwicklungsstand natürliche Neugierde, wird, der aktuellen Zeit entsprechend, durch die Nutzung aller medialer Möglichkeiten, gestillt.
Sexualität und die Neugierde an sexuellen Themen sind absolut normale Entwicklungsschritte. Das Bedürfnis diese Neugierde unabhängig von erwachsenen Bezugspersonen stillen zu wollen ist auch völlig normal und v.a. nichts Neues.
Neu sind lediglich die medialen Möglichkeiten. Die rasche Verbreitung von Informationen, die Schwierigkeit „praktikable“ von „verwirrenden“ Informationsquellen zu unterscheiden.
Druck durch Informationen
Autor: Wolfgang Kostenwein
Je weniger Informationen zum Thema Sex Kinder und Jugendliche von Erwachsenen bekommen, desto eher müssen sie andere, anonyme Informationsquellen bemühen und desto unerfahrener sind sie im Herausfiltern von jenen Informationen, die sie in der eigenen Entwicklung fördern.
Gibt es wenige Vorinformationen zum Thema Sex und v.a. wenig Bezug zu sich selbst und dem eigenen sexuellen Körper, wenig Erfahrung im Umgang mit Medien, so bekommen sämtliche Informationen aus dem Netz eine Bedeutungszuschreibung und werden entsprechend machtvoll.
Bestimmend für die Fähigkeit, sexuell in Beziehung treten zu können, ist ein positiver Körperzugang. Auf dieser Basis ist es erst möglich, sich auch körperlich wahrzunehmen. Viele Bewegungserfahrungen in der kindlichen Entwicklung fördern eine Körperwahrnehmung und damit verbunden auch eine lustvolle Erfahrung des Körpers. Diese Lustwahrnehmung ist schließlich die Grundlage für die Möglichkeit einer sexuellen Gestaltung, einer Handlungskompetenz und auch Grundlage für ein Einlassen in eine gemeinsame Lust in einer Beziehung. Fehlt dieser „innere“ Lustzugang, müssen äußere Bilder zur Orientierung herangezogen werden. Geschieht dies, dann können Pornobilder Druck machen und die Sexualität beeinflussen oder gar beeinträchtigen.
Die Aufgabe von Eltern und anderen Bezugspersonen
Autorin: Bettina Weidinger
Die Kurzformel zum Thema Sexualität und Internet in der Pädagogik lautet:
Mit vielen Kompetenzen ausgestattete Kinder und Jugendliche suchen genauso wie alle anderen Gleichaltrigen auch nach Sex-Infos im Internet. Für den Erwerb sexueller Basiskompetenzen und einer umfassenden Medienkompetenz sind Eltern und Bildungseinrichtungen gleichermaßen verantwortlich.
Kinder und Jugendliche mit Sexuellen Basiskompetenzen und ausreichender Medienkompetenz
- sind fähig, brauchbare von weniger brauchbaren Informationen zu unterscheiden.
- Sind fähig, Gesehenes zu hinterfragen.
- wagen es, Erwachsene anzusprechen, wenn sie mit Antworten ganz und gar nicht zurecht kommen.
- wissen darüber Bescheid, welche Auswirkungen das Hochladen persönlicher, intimer Bilder im Internet haben kann.
- kennen ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse und nehmen diese ernst.
- sind fähig, soziale Beziehungen einzugehen und in diesen Beziehungen Nähe und Distanz zu regulieren.
Für Eltern, PädagogInnen und alle anderen Bezugspersonen bedeutet dies, dass die Förderung der Entwicklung sexueller Basiskompetenzen, wie auch die Förderung von Medienkompetenz die wichtigsten Tools für einen sicheren Umgang mit Internet und Co sind.
Es macht wenig Sinn das Internet und sämtliche Informationsquellen über Sexualität zu verteufeln.
Es macht Sinn, altersadäquat die Entwicklung dieser Kompetenzen zu begleiten.
Basiskompetenzen
Autorin: Bettina Weidinger
Die Förderung von Basiskompetenzen beinhaltet unter anderem:
- Die Vermittlung eines positiven Zugangs zum eigenen Körper
- Die Vermittlung eines positiven Zugangs zum eigenen Geschlecht
- Die Förderung von Körperwahrnehmung über viele unterschiedliche Bewegungs- und Erfahrungsangebote
(Eine ausführliche Darstellung von Basiskompetenzen findet sich im Beitrag „Was bedeutet Sexualerziehung)
Medienkompetenz
Autorin: Bettina Weidinger
Die Förderung der Medienkompetenz beinhaltet unter anderem:
- Das Erlernen eines kritischen, reflektierten Umgangs mit allen Medien
- Bei der Nutzung möglichst vieler, unterschiedlicher Informationsquellen und dem Vergleich dieser Quellen zu unterstützen
- Das geduldige Beantworten von Fragen, die auf Grund von Informationen aus Fernsehen und Co entstehen.
- Das gemeinsame Erarbeiten von manchen Antworten, die möglicherweise nicht genau gegeben werden können und das Nachschlagen auf mehreren Ebenen
- Das Vorleben einer gezielten, positiven Nutzung von Medien – auch Spielen ist etwas Positives!
- Interesse zeigen an dem was das eigene Kind tut, ohne dabei eine unangenehm kontrollierende Haltung einzunehmen – könnte ja auch sein, dass man selbst dabei etwas lernt!
- Die Nutzung des Internets auch für die Erledigung von Hausaufgaben, zum Vokabellernen etc.
- Die Regeln des Internets pragmatisch, emotionslos, aber klar machen: Worauf muss geachtet werden, was kann teuer werden, was ist rechtlich erlaubt, was nicht, wie umgehen mit persönlichen Daten, Fotos etc.
- Das Klären möglicher Gefahren ohne dabei zu übertreiben. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die soziale Netzwerke auch für Übergriffigkeiten nutzen, muss differenziert ausgesprochen werden. Also was kann genau, wie genau und in welcher Weise genau passieren. „Irgendetwas Gefährliches“ ist zu ungenau, macht ein dumpfes, unsicheres Gefühl und lässt letztendlich die Warnung ignorieren.
Was tun, wenn… Pädagogische Fragen des Alltags
Autorin: Bettina Weidinger
Auch wenn bisher alles logisch und klar war, kann es passieren, dass es zu herausfordernden Situationen im Alltag kommt.
Es kann sein,…
…dass sich die Schule, der Hort meldet, weil der eigene Sohn, die eigene Tochter im Schulhof auf dem Handy den anderen irgendwelche Sexseiten gezeigt hat.
…dass die eigene Tochter, der eigene Sohn Nacktfotos von sich im Internet „findet“ und ziemlich verzweifelt ist.
…dass sich das eigene Kind in jemanden aus einem sozialen Netzwerk verliebt und drauf und dran ist, sich für ein Treffen in den nächsten Zug zu setzen.
Wie in allen anderen herausfordernden Situationen, geht es auch hier darum zuerst einmal alle Fragestellungen zu ordnen. Meist ist das gar nicht so leicht – denn sobald das Thema Sexualität, Intimität und möglicherweise Verliebtheit im Spiel ist, kommen intensive Gefühle auch bei den Bezugspersonen hoch:
Angst, Sorge, Ohnmacht, vielleicht sogar Scham und Wut.
All das ist nicht verwunderlich. Denn schließlich wird durch eine Eskalation, egal welcher Art, die gehütete sexuelle Tabugrenze zwischen Bezugspersonen und Jugendlichen plötzlich durchbrochen – und das eigene Kind, das man gerade gestern noch liebevoll in den Schlaf gesungen hat, sitzt plötzlich als sexuell erwachsene Person da und braucht dennoch pädagogische Unterstützung. Also – ziemlich normal, wenn dann auch erfahrene elterliche PädagogInnen kurz die Nerven wegschmeißen.
Der Notfallskoffer für Situationen dieser Art ist einfach niedergeschrieben – und nicht immer einfach einzuhalten, aber jedenfalls hilfreich:
- Ordnen Sie zuerst für sich und dann sehr transparent auch für die Ohren des Kindes die emotionale und die faktische Ebene
- Machen Sie deutlich, was Sie als Regel erachten und was Ihnen aus persönlicher Sicht wichtig ist: Es ist verboten, das Handy in der Schule einzuschalten, deshalb bitte ich dich darum, dich daran zu halten. (Regel) Ich kann nachvollziehen, dass du dich für das Thema Sex interessierst und mit deinen Freunden darüber sprechen möchtest. (persönliche Sicht)
- Vermeiden Sie jegliche Negativprognose (du wirst niemals fähig sein, eine normale Beziehung zu haben oder du wirst nie einen Job kriegen, wenn du..) und bleiben Sie im Hier und Jetzt bei den aktuellen Tatsachen
- Fragen Sie genau nach, was los war – aber fragen Sie nicht warum (es tut nichts zur Sache und kann nicht beantwortet werden)
- Geben Sie klare Anleitungen, wo in Ihren Augen brauchbare Infos zum Thema Sex zu bekommen sind (z.B. lilli.ch )
- Sagen Sie konkret warum Sie meinen, dass Pornos keine geeignete Informationsquelle darstellen. (z.B. erklären Sie anhand von Beispielen Porno-Fakes)
- Machen Sie deutlich, unter welchen Bedingungen Sie ein Treffen mit einer Internetbekanntschaft okay finden und warum dies so ist. Unterstellen Sie der Internetbekanntschaft nicht automatisch ein Gewaltverbrechen, aber machen Sie deutlich, dass es um Sicherheit und um Risikominimierung geht – ähnlich wie beim Queren einer Straße
- Wenn es mit der Schule Probleme gibt: Fragen Sie ihr Kind sehr genau was war, zeigen Sie sich ruhig und ohne große Emotionen, fragen Sie Ihr Kind in welcher Art Sie unterstützen können, welche Lösungen es vorschlägt. Überlegen Sie gemeinsam, wer unterstützen könnte.
- Suchen Sie gemeinsam mit Ihrem Sohn/Ihrer Tochter nach Lösungsvarianten. Geben Sie nicht automatisch etwas vor. Lösungen finden ist es ein Prozess!!! Den müssen weder Sie noch Ihr Kind alleine gehen. Es ist sehr wertvoll, wenn Sie zusammengefasst vermitteln können: Okay, ich bin jetzt erst einmal komplett überfordert. Wenn ich die Lage überblicke, dann geht es um folgende Situation (zusammenfassen). Ich weiß im Moment nicht was ich darauf sagen soll oder wie wir das lösen werden. Ich werde mich aber mit dir gemeinsam so oft und so lange zusammensetzen, bis wir ausreichend Lösungsansätze für diese Situation gefunden haben. Dazu müssen wir beide gleichermaßen nachdenken – bist du mit dabei?
Generation Porno
Autorin: Bettina Weidinger
Kinder und Jugendliche wachsen heute unter anderen Bedingungen auf als ihre Eltern. Dass dieser Umstand als bedrohlich und moralisch verwerflich angesehen wird, ist letztendlich auf den Generationenkonflikt zurückzuführen. Bereits die Elterngeneration der heutigen Kinder und Jugendlichen war moralisch verwerflich und sexuell auffällig – aus Sicht der damaligen Eltern und Großeltern.
Wie in allen pädagogischen Belangen geht es aber sehr wohl um die pädagogische Verantwortung, Kinder und Jugendliche fit für die aktuelle Welt mit ihren aktuellen Möglichkeiten, Verlockungen und Gefahren zu machen. Es geht darum, sie zu befähigen, sich selbst in emotionaler und körperlicher Weise wahrzunehmen. Vor allem aber könnte es ein Anliegen sein, Kinder und Jugendliche in ihren Kompetenzen auf allen Ebenen so zu bestärken, dass sie ethische Entscheidungen treffen können und Zivilcourage erlernen.
Ein Ziel, das nur dann gelingen kann, wenn alle Erwachsenen sich daran beteiligen, in ressourcenorientierter Form Kinder und Jugendliche beim Erwerb und der Erweiterung von Kompetenzen auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene zu unterstützen – und damit einer defizitorientierten, negativen, drohenden und v.a. moralisierenden Pädagogik den Rücken zukehren.
Mag. Wolfgang Kostenwein
www.sexualpaedagogik.at
Vortragstätigkeit und Lehrtätigkeit an mehreren Hochschulen
Lehrgangsleitung Klinische Sexologie Sexocorporel
Zahlreiche Publikationen zu den Themen Sexualität und Sexualpädagogik zB:
Kostenwein, W., Krem, A. (2024): Sexocorporel in der Sexuellen Bildung von Kindern und Jugendlichen. In: Voß, H.J., Stumpe, H. (Hg.) Grundlagen des Sexocorporel. Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und Sexuelle Bildung. Psychosozial-Verlag, Gießen
Weidinger, B. & Kostenwein, W. (2024): Transidentität aus der Sicht des Sexocorporel-Gesundheitsmodells. In: Voß, H.J., Stumpe, H. (Hg.) Grundlagen des Sexocorporel. Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und Sexuelle Bildung. Psychosozial-Verlag, Gießen
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