Die Pubertät ist die zweite große Autonomiephase im Heranwachsen eines Menschen auf seinem oder ihren Weg, ein/e eigenständige/r Erwachsene/r zu werden. Am Ende der Bindungsphase, im Alter von +/- 18 Monaten, entdecken Babys zum ersten Mal sich selbst, nehmen sich zunehmend getrennt von ihren Bindungspersonen als eigenes Individuum wahr und beginnen, sich aus der elterlichen Symbiose zu lösen. Diese Abgrenzung geschieht durch eine Anhäufung des Wortes „Nein!“, das sich meist nicht auf den inhaltlichen Vorschlag der Eltern bezieht, sondern ist schlicht eine Individualitätserklärung und -bekundung durch Gegenteilbehauptung. Anders gesagt: „Ich bin nicht du!“ Was diese erste Autonomiephase maßgeblich von der zweiten Autonomiephase, der Pubertät, unterscheidet ist, dass in diesem Alter unsere Kinder noch nicht alleine leben können, von uns Eltern abhängig sind, sozusagen beeltert werden wollen, und noch einiges an Lernen vor sich haben – auch wenn sie meinen, sie könnten schon alles selber und alleine (zwei Wörter, die Kinder ihren Eltern oft entgegenschleudern, wenn diese die Selbständigkeitsentwicklung ihrer Kinder durch gutgemeintes Helfen eher bremsen anstatt sie zu fördern). Das Aushalten von kindlichen Frustrationen, das Zuschauen beim Scheitern, noble Zurückhaltung und das Gespür zu entwickeln, wann ein Eingreifen nötig ist sind wesentliche Fähigkeiten, die Eltern in dieser Zeit entwickeln können und auf die sie besonders in der Pubertät wieder zurückgreifen werden.
Ab der ersten Autonomiephase beginnt ein lebenslanger Weg, sich selbst in Beziehung zu anderen kennenzulernen oder wie der Wiener Philosoph Martin Buber es ausdrückt: Mein Ich wird am Du. Die Aufgabe von Eltern besteht nun darin, ihre Kinder soweit auf das Leben vorzubereiten und Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihren Kindern ermöglichen, altersgemäß immer mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, um schließlich eigenständig im Leben zu stehen – und das Elternhaus zu verlassen; sich zu Menschen zu entwickeln, die keine Eltern aus kindlicher Abhängigkeit heraus zu brauchen, sich zu enteltern.
Dieser Prozess, das Weggehen, das nochmalige Abgrenzen, ist ein wesentliches Kennzeichen der Pubertät – oder Autonomiephase 2.
Sehen wir Eigenständigkeit als Gegenteil von Verbindung, werden wir möglicherweise aus Angst heraus versuchen, diese zu verhindern. Gelingt es uns jedoch die beiden scheinbar gegensätzlichen menschlichen Grundbedürfnisse von Individualität und Verbindung gleichzeitig in Balance zu halten, erschließt sich eine neue Form des Miteinanders. Der amerikanische Psychologe Murray Bowen nennt diesen Prozess „Differenzierung“ – ich wähle der Einfachheit halber dafür das Wort „Entelterung®“:
„Differenzierung meint die Fähigkeit, im engen emotionalen Kontakt mit anderen ein stabiles Selbst zu bewahren. Dabei gilt es, zwei elementare Lebenskräfte in Einklang zu bringen: das Bedürfnis nach Individualität und das Bedürfnis nach dem Miteinander, der emotionalen Verbundenheit. Menschen, die in ihrem Prozess der Differenzierung weit fortgeschritten sind, können mit anderen einig sein, ohne das Gefühl zu haben, »sich zu verlieren oder zu verschmelzen«, oder aber anderer Meinung sein, ohne das Gefühl zu haben, sich dabei zu isolieren oder »gekränkt zu sein«“ (Kerr u. Bowen, 1988).
Was in der Theorie schlüssig, logisch und erwünschenswert klingt, ist in der Praxis oft schwer umzusetzen. Vielen Eltern gelingt es nicht
- die Verantwortung/Macht/Kontrolle abzugeben
- die eigenen Vorstellungen, wie ihr Kind sein sollte und wohin es sich entwickeln sollte, hinten anzustellen
- sich selbst – neu – zu definieren: Wer bin ich und wer sind wir als Paar, wenn unsere Kinder nicht mehr bei uns wohnen
- sich selbst zuzuwenden und sich der Trauer zu stellen, die mit dem Ende eines Lebensabschnittes einhergeht
- sich den Herausforderungen eines – eigenen – Neubeginns zu stellen und die Beziehung zu ihrem Kind neu zu definieren und zu gestalten
- Anzuerkennen, dass ihre Kinder nun Erwachsene sind, die keine Eltern mehr brauchen und sich zu überlegen, wie diese neue Art der Beziehung aussehen könnte
- ihren Selbstwert nicht durch Leistungen für ihre Kinder oder durch ihre Kinder und deren Leistungen, sondern aus sich selbst zu speisen.
- zu wachsen.
Oder sie wollen all das schlichtweg – trotzig – nicht und verhindern subtil ein Hinauswachsen der eigenen Kinder – selbst wenn diese schon ausgezogen sind. Nebst guter Ratschläge gibt es oft eine Anzahl von ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen oder sogar Vorwürfe an die Jugendlichen. Eltern verhindern so das Autonomiebestreben der jungen Erwachsenen zu Gunsten der eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten, zur Aufrechterhaltung ihres eigenen Selbst mit Mitteln der Manipulation oder emotionalen oder monetären Machtausübung und Erpressung. Diese Neugestaltung der Beziehung, ein neues, erwachsenes Miteinander wird nicht möglich, die Pubertät zieht sich wie ein Kaugummi über Jahre und Jahrzehnte und Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern sind geprägt von Leid und falschem Verantwortungsgefühl der erwachsenen Kinder ihren alternden Eltern gegenüber. Anstatt Loslösung und wieder aufeinander Zubewegung herrschen leidvolle Verstrickungen. Eine Ablösung ist mit viel Anstrengen und innerer Arbeit verbunden und endet nicht selten in traurigen, bitteren Kontaktabbrüchen.
Was also tun, wenn wir als Eltern herausfinden, dass unsere Kinder eigenständige, von uns getrennte Wesen mit eigenen Plänen und einem eigenen Schicksal sind – und uns diese Vorstellung Angst macht?
Es bleibt uns nur zu wachsen.
Wir sind nun eingeladen, uns an uns selbst festzuhalten und unsere eigenen Emotionen zu managen. Wir müssen uns besinnen, dass wir jahrelang gute Vorarbeit geleistet haben und müssen an die Möglichkeiten unser Kinder glauben, anstatt an ihren Defiziten verhaftet zu bleiben.
Wir müssen lernen, in unserem Denken und unseren Vorstellungen flexibler zu werden und unsere Toleranz für Neues und Ungewohntes zu weiten. Wir müssen uns von vorgefertigten Denkschablonen verabschieden, unsere Ängste managen und mit unseren Kindern mit Neugierde und Interesse in einen Dialog gehen, in dem wir bereit sind, etwas Neues über uns, unsere Kinder und über die Welt von morgen, in der sie leben, zu lernen. Wir müssen uns der Grenzen unserer Macht und Kontrolle bewusst werden und uns in Vertrauen üben. Wir müssen Verantwortung für uns selbst übernehmen, anstatt damit unseren Kindern zur Last zu fallen. Wir sind angehalten, uns Hilfe zu suchen, wenn uns all das nicht gelingt und wenn wir wollen, dass wir Menschen sind, die aus Liebe und nicht aus Pflichtgefühl von ihren Kindern besucht werden.
Die Pubertät unserer Kinder ist eine weitere Einladung zur Selbstinventur, zu Lernen und zu wachsen und möglicherweise eine weitere Chance, die eigene Biografie und das eigene Verhaftetsein mit unseren Eltern zu überprüfen und gegebenenfalls zu lösen, uns selbst zu enteltern – sofern wir nicht wollen, dass uns unsere Kinder davonwachsen.
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