Buchstart-Initiativen für Familien mit kleinen Kindern
Ein kleines Ereignis, das nun mehr als 20 Jahre zurückliegt, steht am Beginn der weltweiten Buchstart-Bewegung, die nun endgültig auch in Österreich angekommen ist.
1992, Schauplatz Birmingham: Ein vierjähriger Junge namens Kevin verbrachte seinen ersten Tag in der Vorschule. Als die Lehrerin Bilderbücher an die Kinder verteilte, reagierte er verunsichert, stellte alles Mögliche mit diesem Gegenstand an und warf das Buch über den Tisch, um sich schließlich an den anderen Kindern zu orientieren, die bereits interessiert zwischen den Seiten blätterten. Offensichtlich erkennbar war dies für den Jungen das allererste Buch, das er in Händen hielt.
Der englischen Pädagogin und Kinderbuchautorin Wendy Cooling, die diesem Geschehen erschrocken und betroffen folgte, wurde diese Szene zum Schlüsselerlebnis. Unmittelbar im Anschluss an dieses Ereignis rief sie eine Initiative ins Leben, die sich das Ziel setzte, Familien mit kleinen Kindern schon früh in Kontakt mit Büchern zu bringen. Was 1992 in Birmingham mit Buchgeschenken und Broschüren für 300 Familien begann, gewann immer mehr an Boden und wuchs im Lauf der Jahre zu einer nationalen Bewegung, an der nunmehr Bildungsinstitutionen, Gesundheitseinrichtungen, Bibliotheken, Verlage und ein Heer an freiwilligen HelferInnen aktiv beteiligt sind. Aus einer kleinen Einzelinitiative heraus war Bookstart geboren – weltumspannend hat sich die Buchstart-Bewegung mittlerweile in unterschiedlichsten Ausprägungen über viele Länder ausgebreitet.
Die Wiederentdeckung des Lernorts Familie
Die Buchstart-Idee lebt aus der Überzeugung, dass über die frühe Begegnung mit Büchern und Geschichten Wege des Lernens, Verstehens und Entdeckens eröffnet werden und der kommunikative Austausch innerhalb der Familie wächst. Der soziale und spielerische Aspekt ist hierbei stärker als der pädagogische. Buchstart erzählt viel von der Faszination der Bücher, von familiärer Nähe und von der Freude des Entdeckens und kaum von Lernpädagogik oder Lesetechnik. “ I want to get every child in the country reading for pleasure.” Diese zentrale Botschaft von Wendy Cooling steht als Kompass über den Entwicklungen.
Klickt man sich durch die nationalen und internationalen Buchstart-Angebote, so stößt man auf unterschiedlichste Zugänge und Umsetzungsformen. Allen gemeinsam ist ein möglichst frühes Zugehen auf Familien mit kleinen Kindern und eine neue Form des Vertrauens und Zutrauens, das Eltern und außerschulischen BildungsvermittlerInnen entgegengebracht wird. Man braucht sich nicht vor Fehlern zu fürchten, wenn man sich mit den Kleinen auf Entdeckungsreise in die Welt der Bücher begibt, aber es ist ein großer Fehler, diese Reise nicht anzutreten.
Emotionale Nähe ist wichtiger als theoretisches Wissen
In vielen Ländern herrschte über lange Zeit die Vorstellung, dass „richtiges“ Lesen in der Schule zu lernen sei, der richtigen Technik bedürfe und die Familien oder vorschulischen Einrichtungen keine störenden Vorgriffe in dieser Entwicklung setzen sollten. In vielen Kindergärten war es über lange Zeit regelrecht untersagt mit Buchstaben und Schrift zu arbeiten und in der Vorstellungswelt vieler Erwachsener (selbst BildungspolitikerInnen!) hat sich diese Meinung bis heute nicht geändert. Die Folgen dieser Haltung sind fatal: Während sich Drei- und Vierjährige mittlerweile neugierig und verhaltenssicher durch die multimedialen Räume der Handys und Tablets bewegen, wird einem großen Anteil von ihnen noch immer der Zugang zur Welt der Bilderbücher verwehrt.
Öffentliche Bibliotheken sind von dieser Kritik nicht auszunehmen. Kleine Kinder wurden über lange Zeit viel stärker als die Störenfriede heiliger bibliothekarischer Ordnung denn als begeisterungsfähige Zielgruppe wahrgenommen. Die Buchstart-Bewegung hat in den letzten Jahren hier enorm viel zur Veränderung beigetragen, der anfänglichen Verunsicherung folgte rasch ein begeistertes Mitmachen.
Buchstart-Initiativen auf dem Vormarsch
Es gibt kein Buchstart-Monopol. Tatsächlich sind es verschiedenste Einrichtungen, die die Buchstart-Idee aufgreifen, sehr häufig sind es Öffentliche Bibliotheken, die im Zentrum der Aktivitäten stehen. Als weit verzweigte, gut vernetzte und niederschwellige Einrichtungen, die allen Altersgruppen offenstehen, sind sie ideale Projektträger. Zusammen mit Eltern-Kind-Gruppen, Krabbelstuben, Kindergärten, Schulen, anderen Bildungseinrichtungen und dem Buchhandel können sie Familien mit kleinen Kindern in lokale Lesenetzwerke einbinden und langfristig begleiten. Buchstart-Initiativen können so wichtige Bausteine in der Entwicklung einer neuen Kultur des miteinander Lernens werden. Was in den Familien mit kleinen täglichen Ritualen des Vorlesens, des gemeinsamen Anschauens von Bilderbüchern und des einander Erzählens entsteht, kann durch Unterstützung und Begleitung von außen zu einer neuen Lesekultur führen und die oft unsäglichen Diskussionen über schlechte PISA-Ergebnisse verdrängen.
Buchstart zeigt belegbare Wirkungen
Aus Großbritannien, Hamburg, Südtirol und der Schweiz liegen mittlerweile Evaluationen und erste Langzeitstudien vor, in denen die überaus positiven Auswirkungen von Buchstart-Initiativen belegt werden. Gemeinsam ist den Studien in ihren Ergebnissen: Gegenüber der Vergleichsgruppe wird in Buchstart-Familien mehr vorgelesen und mehr über Bücher und ihre Themen gesprochen, werden mehr Bücher gekauft und häufiger Bibliotheken aufgesucht. Aus einer Südtiroler Befragung geht hervor, dass kleine Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, sehr schnell von sich aus dieses Vorlesen und Bücheranschauen einfordern und somit offen ihre Begeisterung zeigen. In einer englischen Langzeitstudie wird zudem nachgewiesen, dass Buchstart-Kinder selbst in Fächern wie Mathematik bessere Ergebnisse erzielen. (Materialien hierzu auf www.buchstart.at)
Um Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen und wissenschaftliche Untersuchungen wechselseitig nutzbar zu machen, haben sich die Buchstart-Organisationen der einzelnen Länder weltweit vernetzt: www.euread.com/global-network-for-early-years-bookgifting
Family Literacy – mit Büchern wachsen
In Österreich gibt es schon länger lokale Angebote, die dem Buchstart-Gedanken folgend auf Neugeborene und ihre Familien zugehen. In Vorarlberg gibt es eine große und sehr engagierte Buchstart-Initiative, die Stadt Wien hat im Frühjahr 2011 mit viel Engagement ihr Projekt gestartet. Zur gleichen Zeit ist auch das in Salzburg beheimatete Österreichische Bibliothekswerk mit seiner Buchstart-Initiative an die Öffentlichkeit gegangen. Unter dem Titel „Buchstart: mit Büchern wachsen“ werden Bilderbücher herausgegeben, Materialien erstellt, Projektideen gesammelt, Fortbildungen angeboten und im Austausch mit österreichischen und internationalen Projektträgern konkrete Modelle erarbeitet.
Das Herzstück der Materialien bildet die biblio-Leselatte „Das große Ich bin ich“ nach einer Idee von Heinz Janisch und mit Illustrationen von Helga Bansch. Dieses kleine Kunstwerk öffnet viele Fenster in die Welt des Erzählens, der Poesie und des spielerischen Umgangs mit Sprache. Im Kinderzimmer aufgehängt, soll die Leselatte die Kinder über Jahre hinweg begleiten und verschiedene Lese- und Buchwelten erschließen. 2012 ist unter dem Titel „Das kleine Farben-Einmaleins“ das erste Buchstart-Bilderbuch erschienen, dem rasch weitere Titel namhafter österreichischer AutorInnen und IllustratorInnen folgten. Mit dem Bau von kleinen Buchstart-Bilderbuch-Bühnen wird die Faszination von Bilderbüchern kreativ unterstützt, ein nächster wichtiger Entwicklungsschritt gilt der Ausbildung von VorlesepatInnen. Die ausgezeichnete Kooperation mit der MARKE katholische Elternbildung und ihren Netzwerken hat zusätzlich enorme Impulse für die österreichische Buchstart-Bewegung gebracht.
Lokal wie überregional werden diese Angebote aufgegriffen, adaptiert, weiterentwickelt und in die Familien hineingetragen. Besonders beeindruckend wird das gerade im Burgenland demonstriert, wo eine kleine Gruppe von BibliothekarInnen mit unglaublichem Engagement und ungeheurer Kreativität ein landesweites Buchstart-Projekt initiiert hat. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, im Herbst 2014 erfolgt der Startschuss und das unmittelbare Zugehen auf Familien mit Neugeborenen.
Während sich in Österreich rund um Schulformen, Zentralmatura und Unizugänge eine unsägliche Bildungsdebatte überwiegend mit Schuldzuweisungen beschäftigt, hat sich von vielen unbemerkt in und mit den Familien eine ständig wachsende Bewegung gebildet, die mit der Freude am gemeinsamen Blättern, Lesen und Entdecken den Grundstein zu einer neuen Lese- und Lernkultur in unserem Land setzen kann. Der Lernort Familie wird zum wichtigen Schauplatz künftiger Entwicklungen, der schönste ist er sowieso.
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