Ich bin als gehörloses Kind in einer hörenden Familie aufgewachsen und kenne die hörende Welt gut. Mein Mann und ich sind gehörlos und haben hörende Kinder. Unsere Familiensituation ist also genau umgekehrt. Ich möchte hier von meinen Erfahrungen und Erlebnissen, die mir immer wieder passieren, erzählen. Hörende aber auch gehörlose Eltern sollen Einblick in ein Familienleben innerhalb zweier Welten bekommen. Wichtig ist es mir, dass auch Gehörlose verstehen was in dem Begriff „CODA“ steckt.
CODA
CODA ist eine englische Abkürzung welche bedeutet: Children of Deaf Adults (=Kinder gehörloser Eltern). CODAs wachsen in zwei unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Welten auf. In ihren Familien und der Gehörlosengemeinschaft wird in Gebärdensprache kommuniziert. Innerhalb der Gehörlosengemeinschaft existieren eigene Sitten und soziale Aspekte, welche sich stark von der hörenden Welt unterscheiden.
CODAs sind verschieden. Verschieden im Beherrschen der Gebärdensprache und im Umgang mit den zwei Welten, der Welt der Hörenden und der Welt der Gehörlosen. Manche CODAs fühlen sich der Gehörlosengemeinschaft mehr zugehörig und manche weniger. Man muss sich als Elternteil bewusst sein, dass diese Kinder in beiden Welten leben und dieses Erleben auch schwierig für Kinder sein kann. In einer gehörlosen Familie wird beispielsweise keine Rücksicht darauf genommen wie leise oder laut eine Kastentür zugeschlagen wird – weil Gehörlose das nicht wahrnehmen. Das hörende Kind lernt aber in der hörenden Welt, dass Hörende darauf bedacht sind eine Kastentür möglichst lautlos zu schließen um keinen Mitmenschen zu erschrecken oder den Eindruck von Wut oder Zorn zu erwecken.
Es gibt CODAs, die später Gebärdensprachdolmetscher/innen oder Sozialarbeiter/innen werden, aber auch hörende Kinder von Gehörlosen, die beruflich etwas ganz anderes machen und sich zu 100 Prozent von der gehörlosen Welt abgrenzen. Diese können sich meist nicht mit beiden Welten anfreunden und beherrschen oft weniger gut die Gebärdensprache.
Meine Kinder und Dolmetschen? Nein danke!
Schön öfters hatten einige Personen die Idee, dass meine hörenden Kinder doch meine Dolmetscher/innen werden könnten und zum Beispiel Telefonate und Arzttermine für mich übersetzen. Wenn ich solche Vorschläge höre, werde ich immer wütend, denn das lehne ich strikt ab! Schließlich sollen meine Kinder eine unbeschwerte Kindheit erleben. Ich bin die Mama für meine Kinder und werde immer für sie da sein und nicht umgekehrt. Wenn Kinder für ihre Eltern dolmetschen müssen, dann bedeutet das eine zu große Belastung für sie. Ihre Kindheit würde früher beendet sein und sie würden sich dann automatisch verantwortlich fühlen.
Für mich ist dieses Für-die-Eltern-Dolmetschen ein absolutes No-Go.
Natürlich kann es passieren, dass eines meiner Kinder mir kurz aushilft, wenn ich das Gesagte der Freunde nach mehrmaligem Wiederholen und Nachfragen überhaupt nicht verstanden habe. Oder wird der Oma mal ein lieber Gruß von mir während eines Telefonats ausgerichtet.
Aber für mich extra da und dort anzurufen um dann beim Arzt, bei der Bank oder sonst wo zu dolmetschen käme für mich nie in Frage. Ich kann dank der modernen Technik und diverser Serviceangebote für Gehörlose meine Terminvereinbarungen telefonisch selbst erledigen. Heutzutage kann man so vieles per Email abwickeln.
Gott sei Dank haben wir auch berufstätige Dolmetscher/innen, die ihre Arbeit für uns machen. Die Inanspruchnahme der Dolmetschleistungen bei Ärzten, im Beruf oder bei Ämtern kostet mich nichts, da die Dolmetschkosten im beruflichen und privaten Bereich (fast immer) bezahlt werden.
Meine Kinder sollen mich respektieren sich nie für mich schämen müssen bzw. niemals denken ich wäre dumm. Ich möchte für SIE da sein, ihnen die Welt erklären und für Ratschläge und Tipps zur Seite stehen und nicht umgekehrt. Leider kommt es auch heute noch immer wieder vor, dass Gehörlose ihre hörenden Kinder zum eigenen Elternsprechtag mitnehmen zum Dolmetschen. Oder übernehmen die Kinder unbewusst schon sehr früh Verantwortung indem Bankgespräche oder Vertragsabwicklungen gedolmetscht werden. Daher meine Bitte an alle Gehörlosen: Lasst euren Kindern ihre Kindheit, sie werden ohnehin so schnell erwachsen. Es gibt für uns Gehörlose genügend Angebote und Möglichkeiten, da müssen wir wirklich nicht unsere Kinder mit Erwachsenenangelegenheiten belästigen.
Eine Familie mit hörenden Kindern und gehörlosen Eltern – in der Gehörlosenwelt eigentlich der Normalfall. Aber für Hörende immer wieder faszinierend, dass Kinder gleichzeitig mit Laut- und Gebärdensprache aufwachsen. Vorbei sind (hoffentlich) die Zeiten, in denen CODAs sich für ihre Eltern schämen. Im Gegenteil, sie können stolz sein auf ihr Leben mit zwei Sprachen und in zwei Kulturen.
Tipps für hörende und gehörlose Menschen:
- Bitte CODA-Kinder nicht als Dolmetscher/innen verwenden!
- CODAs so akzeptieren wie sie sind – egal ob mit viel oder keiner Gebärdensprachkompetenz und Zugehörigkeitsgefühl zu der einen oder anderen Welt
- Fragen vermeiden, die CODA-Kinder verunsichern, z.B. „Wie hast du Deutsch/Sprechen gelernt?“, „Kannst du der Mama bitte helfen?“
- Verantwortung nicht an CODAs übergeben (absichtlich oder unabsichtlich)
- CODAs kennen beide Welten, aber sie sollen als Kinder nicht zwischen den Welten vermitteln!
Kommentare
Sabine
Ich bin auch ein CODA Kind,aber mich hat es nie gestört,wenn man mich gefragt hat ,wo ich sprechen gelernt habe.Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen und war jedes Wochenende bei meine gehörlosen Eltern.Meine Mutter sollte mit mir sprechen.So hat es meine Oma ihr gesagt.Leider.Ich bin nicht so gut im Plaudern.Meine jüngere Schwester ist auch gehörlos ,lebt aber nicht in Berlin.Wir sehen uns nur selten .Ich merke, wenn wir zusammen sind ,Gebärden sie langsam.Mein Vater hat eine ältere Gebärdensprache als meine Schwester.Verstehe ich nicht so gut.Ich bin stolz uf meine gehörl Schwester.Sie meistert wunderbar selbstständig ihr Leben.Ich Liebe sie. Ich war in einem Kurs um besser die Gehörl Sprache zu können,aber leider habe ich zu wenig Gelegenheit zu plaudern. Ich wünsche allen CODAS und deren Eltern eine schöne Zeit zusammen.Es kann so schnell vorbei sein.Meine Mama gibt's nicht mehr.Liebe plaudergrüße Sabine
Claudia
Hallo Lena, ich bin ein CODA und ich habe sprechen gelernt wie jeder andere auch. Man lebt als CODA doch nicht völlig isoliert! Es gibt Onkel, Tante, Oma und Opa. Auch Nachbarn, die sich mit einem unterhalten. Dann gab es auch Radio, Kassetten, Schallplatten, Fernseher und zum Schluss auch noch den Kindergarten. Für ein CODA Kind ist die Frage, wie es sprechen gelernt hat, sehr verletzend, denn damit wird einem wieder klar gemacht, dass man in 2 Welten lebt. Das ist mir persönlich oft passiert. Das tut weh, trotzdem bin ich stolz auf meine gehörlosen Eltern und liebe sie!
Lena
Ich habe eine ernst gemeinte Frage. Wieso ist die Frage "wie hast du sprechen gelernt?" bei CODAs unangebracht? Wie lernen denn Kinder tauber Eltern sprechen? Wenn sie mit 4 in den Kindergarten kommen? Das ist doch viel zu spät oder? Bitte klären Sie mich auf, weil diese Frage stelle ich mir ernsthaft.
Ute
Ich bin heute auf Eure Seite aufmerksam geworden, weil ich Oma eines Coda bin. Meine Enkelin ist z. Z. 2 Jahre alt und lebt mit ihren gehörlosen Eltern. Ich habe das Glück, dass mich meine Enkelin aller 14 Tage am Wochenende besuchen darf. Dadurch erlebt meine Enkelin von Geburt an den Wechsel beider Kulturen. Es bedeutet jedes Mal eine Trennung vom Elternhaus für kurze Zeit. Aber mit der heutigen Technik kann man auch eine Trennung mit Skipe oder Whats app - Video überwinden Ich danke meiner gehörlosen Tochter, dass sie mir es ermöglicht, meine Enkelin mit zu fördern. Ich habe beide ganz dolle lieb und bin stolz auf meine Tochter, die das Aufwachsen ihrer Tochter sehr gut meistert. Kinder brauchen Liebe, egal ob hörend oder gehörlos. Was bedeutet es für eine blinde Frau, ein Kind zu gebären und es wachsen zu erleben. Habt Ihr Euch da auch mal die Frage gestellt? Liebe ist die wichtigste Grundlage für das Aufwachsen der Kinder. ...
Ute
Monique - Hilfe beim Lesen lernen Klasse 1 Ich kann deine Sorgen verstehen. Vielleicht kannst Du die Lehrerin fragen, ob ein größeres Kind aus der Oberstufe eine Art Lesepate macht. Dein Kind lernt mit diesem Kind zusammen das Lesen. Vielleicht entwickelt sich eine Freundschaft und der Lesepate liest deinem Kind dann auch zu anderen Zeiten vor oder sie lesen gemeinsam.
Oliana
Liebe alle erfahrende erwachsene und gleichgesinnte Coda Kinder Ich bin selbst eine gehörlose Mutter, aber zusätzliche noch leicht cerebrale Körperbehinderung mit vietnamesiche-schweizerische Kultur und habe selbst auch 2 hörende Coda Kinder. Ich bin durch mich selbst dankbar, dass ich diese Webseite betreffend Coda Kultur gelandet bin und Eure Texte sorgfälltig genauer durchgelesen habe. Eure Texte werde ich im mein Herz aufnehmen und als Mutter gegenüber meine 2 Coda Kinder besser verhalten und umgehen, aber auch mich selbst reflektieren und meine eigene Fehler lernen. Danke durch Euch bin ich meine Verunsicherung befreit und gelernt. Grosse Danke!! Oliana Ly
Valerie
Ein sehr interessanter Beitrag. Danke dafür. Ich hab in meinem Pädagogikstudium eine Lehrende gehabt, die gehörlos war und uns mittels Dolmetscher unterrichtet hat. Das war sehr spannend. Ich frage mich auch, ob es Sinn macht selbst ÖGS zu lernen um ein gehörloses Kind in meiner Gruppe zu betreuen. Ich bin seit 15 Jahren Tagesmutter für Kinder von 1-3,5 Jahren und würde mich gerne diesbezüglich weiterbilden.
Ruth
Hallo, 1. Ich bin ein Coda und es ist wirklich eine Frechheit zu meinen, dass Gehörlose keine Kinder bekommen sollten. Ich liebe meine Eltern und ich hatte eine wunderbare Kindheit. Ich habe von meinen Eltern viel Liebe bekommen und ja sie haben mir auch vorgelesen in Gebärdensprache! 2. Antwort an Monique: Liebe Monique, keine Problem. Einfach in Gebärdensprache vorlesen. Dein Kind kann auch lesen üben, wenn dein Kind ein Wort liest und gebärdet. Ein Wort lesen und gebärenden, nächstes Wort lesen und gebärden und so weiter. Keine Angst, klappt wunderbar :) Viele Grüße
Gitti
Es ist wirklich eine Frechheit zu sagen "Dass es egoistisch und verantwortungslos ist, wenn gehörlose Eltern Kinder bekommen" Jedes Kind sollte das Recht haben Eltern zu haben die es lieben, die Welt erklären, egal ob hörend oder nicht hörend. Gehörlosen Eltern können vielleicht nicht singen, aber alles andere ist kein Problem. Gehörlose Eltern können "sprechen" - mit ihren Händen und somit auch "vorlesen". Hörende Kinder von gehörlosen Eltern, wenn sie geliebt werden, sind nicht arm. In diesen Familien gibt es Kommunikation - ÖGS!!!
Peter
Monika: Dann dürften Frauen über 35J. keine Kinder mehr kriegen usw.. Das ist soweit Blödsinn. Das Kinder kriegen ist immer ein Risiko und immer wieder ein Wunder. Monique: Kinder werden durch soviel verschiedene Dinge sozialisiert, das es kein Problem darstellt. Fehlt was bei den Eltern, so wird das auf anderem Weg gelernt. Ich würde mir keine Sorgen machen. Einzig würde ich vermeiden meine Kinder zu sehr ans Haus zu binden, sondern Ihnen so viel Freiheit wie möglich zu geben.
Marika
Dass Gehörlose Kinder bekommen ist für mich egoistisch und verantwortungslos. Wie kommt das Kind dazu? Hat das Kind nicht Recht auf hörende Eltern, die Ihnen die Welt erklären? Letztendlich bleibt Vieles an den Großeltern hängen, denn sprechen, singen und vorlesen können die Eltern ja nicht. Was macht man aber mit den Kindern dann eigentlich? Essen geben, für Hygiene sorgen, anziehen und in den Kindergarten oder Schule bringen? Dazu bringen Gehörlose Kinder zur Welt? Ich bin Oma von so einem Kind. Diese Kinder sind arm, auch wenn gehörlose Eltern meinen, dass es nicht so ist.
Monique
Coda, mein Mann und ich sind gehörlos und unser Kind ist gesund, hörend. Kind geht in der Schule Klasse 1. ich habe ja Sorgen. Lehrer schafft nicht viele Schüler unterrichten. Lehrer möchte alle Eltern sagen, unterstützen alle Eltern zu Hause für Kinder vorlesen. Die Kinder soll lesen zu Hause wahrnehmen lernen. Wir sprechen nicht gut die Stimme und nur Gebärdensprache. Wie sollen wir machen ? Vielleicht helfen Sie uns Tip geben. Danke für Mühe. Bis dann