Das erste Wort des eigenen Kindes bleibt allen Eltern in Erinnerung. Eltern fiebern diesem magischen ersten Wort entgegen und regen ihr Baby zum Nachsprechen an, sobald es die ersten Silbenketten, wie zum Beispiel „da-da“ oder „ba-ba“ äußert.
Doch was, wenn das erste und die weiteren Worte bzw. eine verständliche Kommunikation auf sich warten lassen? Mag. Martina Genser-Medlitsch sprach mit Karin M., einer Mutter von drei Söhnen, bei denen die Sprachentwicklung ganz unterschiedlich verlief.
Martina Genser-Medlitsch: Eltern machen sich meist viele Gedanken über die Entwicklung ihrer Kinder, aber vielleicht weniger, wie Kinder eigentlich konkret sprechen lernen. Wie war es bei Ihnen?
Karin M: Natürlich freut man sich als Elternteil über die ersten Laute, Silben und vor allem das erste Wort. Aber so richtig Gedanken darüber, WIE meine Kinder Sprache erlernen, habe ich mir zunächst nicht gemacht. Brauchte ich auch gar nicht, da die Sprachentwicklung meines Ältesten, Luis, heute 7 Jahre, ziemlich unkompliziert verlief: als Baby gurrte, lallte, quietsche er und „antwortete“, wenn ich ihn ansah, ansprach oder mit ihm spielte. Bald fing er auch mit der typischen Babysprache an: da da, mama, ba ba, wau wau … und schließlich sein erstes Wort „Mama“ und sein erster Satz „Mama da“! Von da an ging es rasend schnell. Ein Wort nach dem anderen und die ersten Sätze kamen dazu. Und natürlich blieben auch lustige Momente nicht aus, wenn er Wörter ungewöhnlich miteinander kombinierte oder neue Wörter erfand.
Martina Genser-Medlitsch: Bei Ihrem zweiten Kind Marco verlief die Sprachentwicklung etwas anders. Was haben Sie bei ihm beobachtet?
Karin M.: Das erste Jahr war ziemlich ähnlich wie bei Luis. Auch Marco machte die unterschiedlichsten Laute, war sehr „gesprächig“ und reagierte, wenn ich ihn ansprach. Wenn er mit „da“ auf etwas zeigte, wusste ich sofort, was er wollte. Das blieb dann eine lange Zeit so. Selbst als er schon fast 3 Jahre alt war, nutzte er hauptsächlich das „da“. Nur langsam kamen neue Wörter dazu. Es war nicht so, als ob er es nicht versuchen würde, aber irgendwie gelang es ihm einfach nicht, die Wörter deutlich auszusprechen.
Martina Genser-Medlitsch: Woran haben Sie genau gemerkt, dass die Sprachentwicklung von Marco nicht ganz optimal verläuft?
Karin M.: Wenn er Wörter sprach, waren sie schwer zu verstehen. Er zeigte lieber auf das, was er wollte, anstatt es zu sagen – und das, obwohl er schon fast 3 Jahre alt war. So war zum Beispiel das „iech“ sein Wort für Milch. Wenn er etwas sagte, habe ich ihn dann mit der Zeit schon verstanden. Aber ich glaube, das ist relativ normal, dass man als Mutter oder Vater das richtige Wort dann auch wirklich „hört“, obwohl das Kind es undeutlich ausspricht. So richtig bemerkt habe ich es, als Marco demotivierter wurde, etwas zu anderen – selbst seinem großen Bruder – zu sagen. Er fing dann auch an, sich zurück zu ziehen, vor allem, wenn es neue Wörter waren und ich ihn als Mama dann auch nicht verstand. Da machte ich mir Sorgen, dass er eine Angst vor dem Sprechen entwickelt oder er sogar mit dem Sprechen ganz aufhört. In seinen Augen hatte er ja viele, viele Misserfolge am Tag, weil andere ihn nicht verstanden, was er zu sagen versuchte. Ab dem Zeitpunkt habe ich mich an seine Kindergartenpädagoginnen und seinen Kinderarzt gewendet.
Martina Genser-Medlitsch: Wie schätzten diese die Sprachentwicklung von Marco ein?
Karin M.: Dass dies in seinem Alter noch gar nichts aussagt, dass er bestimmt nur ein „Late Talker“ ist – also ein Kind, das lange nicht und dann von einem Tag auf den anderen Tag viele Wörter und sogar vollständige Sätze korrekt spricht. Auch im Kindergarten habe ich diese Rückmeldung erhalten. Diese zwei Expertenmeinungen beruhigten mich zunächst einmal.
Martina Genser-Medlitsch: Sie haben dann aber doch eine Logopädin konsultiert. Wie kam es dazu?
Karin M.: Nach einem Besuch in meiner Heimat änderte sich meine Einstellung, dass alles in Ordnung sei, schlagartig: er müsse doch schon viel mehr und viel deutlicher sprechen, meinten meine Verwandten. Das löste einen inneren Konflikt in mir aus, der mich einige Wochen lang beschäftigte. Ich habe versucht abzuwägen, was im Interesse von Marco zu tun wäre: sollten wir ihm noch Zeit geben und abwarten? Oder ihn (vielleicht völlig unbegründet) doch schon zu einem Logopäden schleppen? Übt die Therapie vielleicht zu viel Druck aus? Was, wenn Marco von dem Sprachtherapieangebot in seiner Motivation zu sprechen gedämpft wird (weil er dann bewusst merkt, dass seine Art zu sprechen nicht „die Richtige“ ist)? Oder hilft ihm das vielleicht sogar, deutlicher sprechen zu können? Diese Gedanken und noch viel mehr schossen mir die nächsten Wochen durch den Kopf und waren Inhalt der Gespräche mit meinem Partner. Schließlich entschied ich mich, doch eine Logopädin aufzusuchen – denn, wenn Marco auf eine Sprachstörung zusteuert, sollte diese so frühzeitig wie möglich auch behandelt werden.
Martina Genser-Medlitsch: Wie verlief das Abklärungsgespräch bei der Logopädin?
Karin M.: Bei dem Abklärungstermin war ich sehr nervös, wollte aber Marco nichts spüren lassen, damit er nicht verunsichert wird und sich dann vielleicht nicht getraut, zu reden. Mit ruhigem und freundlichem Ton ging die Logopädin auf Marco zu, begrüßte ihn und wir gingen gemeinsam in den Raum. Zunächst stellte mir die Logopädin etliche Fragen, zu Schwangerschaft, Krankheiten in der Kindheit, das erste Jahr usw. Marco spielte währenddessen mit dem dortigen Spielzeug. Anschließend nahm die Logopädin ein Memoryspiel und fragte Marco, ob er es mir ihr spielen wollte. Durch diesen spielerischen Zugang schaffte die Logopädin eine tolle Atmosphäre, so dass Marco auch das zeigte, was er konnte.
Martina Genser-Medlitsch: Zu welcher Schlussfolgerung kam die Logopädin?
Karin M.: Sie meinte, dass Marco Schwierigkeiten hat, Wörter zu formen – er ist also kein Late Talker. Die Logopädin fragte mich, ob Marco in den ersten zwei Jahren oft Erkältungen oder Ohrenentzündungen hatte. Und ja, das hatte er. Sie vermutete, dass diese Erkältungen ihn kurzzeitig schlechter hören ließen und er dadurch wichtige Meilensteine in der Sprachentwicklung „verpasst“ oder nur teilweise hat meistern können. Mit einfachen Aufgaben hat sie uns nach Hause entlassen: mit einem Strohhalm hat Marco bis zum nächsten Termin geübt, eine leichte Kugel am Tisch oder Boden vorwärts zu pusten. Wir haben einige solcher einfachen Übungen gezeigt bekommen. Seitdem gehen wir regelmäßig in die Logotherapie und Marco hat schnell Fortschritte gemacht. Er ist auch viel selbstbewusster geworden, allein durch die Tatsache, dass er sich besser ausdrücken kann und von anderen besser verstanden wird.
Martina Genser-Medlitsch: Was würden Sie anderen Eltern raten wollen?
Karin M.: Dass man seinem Kind keinen Druck machen soll. Jedes ist individuell und hat einen ganz eigenen Weg, sich der Sprache zu ermächtigen. Und dennoch sollte man achtsam sein und auf sein Gefühl hören. Sicherlich machen wir Eltern uns oft viele und manchmal auch unbegründet Sorgen, aber wenn man wirklich das Gefühl hat, dass da etwas nicht stimmt, sollte man sich auch professionellen Rat einholen, und zwar auch von einer Logopädin oder einem Logopäden. Sie haben genügend Erfahrung, schnell einzuschätzen, ob wirklich eine Therapie notwendig ist.
Martina Genser-Medlitsch: Ihr Jüngster ist jetzt 2 Jahre alt. Was zeichnet sich bei ihm ab?
Karin M.: Felix lernt gerade das Sprechen. Seine ersten Wörter sind sehr gut verständlich und er spricht alles nach. Er lernt jeden Tag neue Wörter. Bei ihm mache ich mir bisher überhaupt keine Sorgen. Aber mal sehen, welch spannende Reise wir in seiner Sprachentwicklung miterleben werden!
Das Interview führte Mag. Martina Genser-Medlitsch.
Martina Genser-Medlitsch ist Klinische- und Gesundheitspsychologin und leitet den Fachbereich Kinder, Jugend, Familie und psychosoziale Angebote im HILFSWERK ÖSTERREICH.
Mehr Informationen rund um den kindlichen Spracherwerb: Der Ratgeber „Sprechen macht schlauer!“ wird gemeinsam mit dem bewährten Kinderbetreuungskompass bei der beliebten Roadshow HILFSWERK ON TOUR (siehe www.hilfswerk.at) verteilt, ist aber auch unter 0800 800 820 oder office@hilfswerk.at kostenlos erhältlich. Gerne können Sie den Ratgeber und weitere interessante Informationen auch auf unserem Webportal www.hilfswerk.at/sprechen-macht-schlauer abrufen.
Kommentare