Es ist noch dunkel an diesem Morgen Ende August, als wir Leon zum Flughafen bringen. Der Flug nach Paris geht zwar erst in drei Stunden, aber wir sollten rechtzeitig da sein, meinte die Austauschorganisation. So stehen wir alle etwas verloren zwischen lauter Reisenden, die fröhlich plaudern. Eigentlich ist alles schon vielfach gesagt und natürlich, das sage ich mir immer wieder, ist er ja nicht wirklich weg, sondern nur woanders, über Handy eigentlich immer erreichbar. Auch wenn das so nicht vorgesehen ist, wie man uns bei einem Vorbereitungstreffen für Eltern erklärt hat. Die Kinder sollen ihre Probleme selbst lösen, selbständiger werden, eintauchen in das andere Leben. Da habe ich bei Leon zwar an sich keine Bedenken, aber wie wörtlich er das nimmt, wird sich bald zeigen. Größere Bedenken habe ich bei mir. Werde ich loslassen können? Den mütterlichen Drang unterdrücken, wissen zu wollen, dass es meinem Kind gut geht, er rechtzeitig morgens aus dem Bett kommt und täglich Obst isst. Aber dafür ist jetzt jemand anderes zuständig …
Als Leon mit dem Wunsch, einen Austausch zu machen, auf uns zu kam, hielt ich es zunächst für eine seiner verrückten Ideen. Warum wollte er von uns weg, wie würde es dann schulisch weitergehen und wie sollten wir uns das überhaupt leisten? Aber wo ein Wille ist, ist ein Weg. Deshalb stehen wir jetzt hier. Also bringen wir es hinter uns. Schicken wir das Kind in sein Austauschjahr! Noch eine Umarmung. Die muss jetzt für die nächsten 10,5 Monate reichen. Und dann zieht er los. Irgendwie erleichtert, fröhlich, kurzer Blick zurück, Selfie. Los geht’s.
Auf der Rückfahrt wird seiner kleinen Schwester schlecht im Auto. Auch in meiner Magengrube zwickt es. Ein paar Stunden später die ersten Bilder von einem in die Kamera strahlenden Kind mit einem großen Gepäckwagen und einem Schild in der Hand „Bienvenue Leon“.
In den nächsten Tagen und Wochen kommen sporadisch Bilder und Nachrichten. Läuft, entnehme ich aus den wenigen Informationen. Bis mich Mitte Oktober eine E-Mail der Austauschorganisation erreicht: „Wie Sie sicher wissen, wird Leon die Familie wechseln.“ Was? Nein, weiß ich nicht! Anruf bei Leon, der mir völlig abgeklärt erklärt, dass seine Gastfamilie beschlossen hat, dass man für den Rest des Jahres doch nicht zusammenbleiben möchte. Sie haben miteinander gesprochen und auch mit seiner Betreuerin. Die Austauschorganisation wird eine neue Familie suchen. Mein 15-Jähriger hat das alles ganz ohne uns gemeistert. Trotzdem ein nachträglicher Anflug von Panik bei mir. Wie geht es jetzt weiter? Leon möchte gern an seiner Schule bleiben, wo er schon Freunde gefunden hat. Und Gastgeschwister wären schön, die haben ihm gefehlt. Gut zwei Wochen später zieht er um. Volltreffer. Die ersten Bilder, die uns erreichen, zeigen eine große, fröhliche Geburtstagsrunde mit vielen Kindern, drei davon seine neuen Geschwister. Im Laufe des Jahres kommen Bilder von beeindruckenden Chorauftritten – in der Oper zu Silvester, beim Schulmusical, Auftritte der Schulband, schließlich ein Konzert in der Kathedrale aus Anlass des deutsch-französischen Friedensschlusses. Er hat in diesem Jahr Möglichkeiten, die er zuhause nie gehabt hätte. Und er nutzt sie. Dazwischen Bilder von Reisen, Pfadfindertreffen und Familienfeiern, die mir seine Gastmutter schickt. Leon ist viel zu beschäftigt, um uns auf dem Laufenden zu halten. Wir sind Zaungäste und mittlerweile sehr stolz auf unseren Sohn. Nach seiner Rückkehr wird er hoffentlich einiges erzählen, was wir in diesem Jahr in seinem Leben verpasst haben.
Als er dann wirklich zurück ist, trauen wir unseren Augen kaum. Das Kind ist 10 cm größer, die Haare bis zu den Schultern. Kein Junge mehr, sondern ein junger Mann – in jeder Hinsicht. Immer mal wieder erzählt er Episoden aus seinem Austauschjahr. Bei manchen stockt mir kurz der Atem oder es kommen mir Tränen der Rührung. Wie er sich am ersten Schultag in einer riesigen Schule einfach an einen Mitschüler geheftet hat, wie ein Entlein an seine Mutter, und ihm dann immer hinterhergelaufen ist. Sie sind schließlich beste Freunde geworden. Oder dass er sich das Mäkeln abgewöhnt hat, weil er sonst in einem Land wie Frankreich wirklich einiges verpasst hätte. Er hat nicht nur Französisch gelernt und wie man Mousse aux Chocolat selber macht, sondern auch, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen – für sich und andere. Der Umweg über Frankreich war eine erlebnisreiche Abkürzung auf dem Weg zum Erwachsenwerden und eine Vorübung für uns als Eltern, das eigene Kind zuversichtlich ins Leben zu entlassen.
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