Wenn Menschen an einer Essstörung erkranken, breiten sich bei Angehörigen und Freunden oft lähmende Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit aus. Wie kann man als Nahestehender helfend in das Geschehen eingreifen und was kann man tun, um nicht selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren?
Eigentlich war Kerstin nie wirklich dick. „Durchschnitt“, wie ihr Papa zu sagen pflegte. „Vielleicht ein wenig kernig“, so die Oma. Nicht krankhaft übergewichtig, ein bisschen mollig eben. Das 14-jährige Mädchen fühlte sich jedoch nie wohl in ihrer Haut – ewig stand sie auf Kriegsfuß mit ihrem Körper, mit ihrem vermeintlichen Zuviel an Kilos. Sie beschloss mit ihren Freundinnen, gemeinsam eine Diät zu starten: Essensreduktion auf 800 Kalorien, parallel dazu ein eisernes Sportprogramm. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Kerstin nahm rasch ab, wurde für ihre „tolle Figur und ihr gutes Aussehen“ gelobt. Lange nahm niemand wahr, dass Kerstin scheinbar keine Grenze beim Abnehmen fand und sich immer mehr zurückzog. Der einstige Schokofan knabberte nur mehr an rohen Salatblättern und wirkte viel blässlicher als sonst. Freunde und Familie machten sich inzwischen große Sorgen um das einst so fröhliche Mädchen, das allmählich jede Lebensfreude einzubüßen schien. Niemand schien mehr an Kerstin heranzukommen. Kerstin selbst ging damals bereits Hand in Hand mit einem neuen Verbündeten – mit der Magersucht.
Normal oder doch schon auffällig?
Speziell Jugendliche haben in Punkto Essen eigene Vorstellungen. Da werden die bislang so geschätzten Fleischgerichte von heute auf morgen vom Speiseplan gestrichen: „Du, Mama, ab heute esse ich vegetarisch“, verkünden die jungen Sprosse dann ganz beiläufig. Zwei Wochen später kann was ganz anders „en vogue“ und die Grünzeug-Körnerkost Schnee von gestern sein. Fakt ist: Merkwürdiges Essverhalten muss nicht zwingend in eine Essstörung münden. Kids erproben im Laufe ihrer Entwicklung gerne ihren eigenen Lebensstil – auch beim Essen.
Auch Abnehmen an sich ist noch kein Anlass zur Sorge. Verliert eine etwas fülligere Person ein paar Kilos, verleitet das zunächst dazu, Komplimente zu verteilen. Doch was, wenn das anfangs noch gesunde Essverhalten kippt. Das macht es auch so schwierig, eine Essstörung im Anfangsstadium zu erkennen. Doch wann sollte man genauer hinschauen und die Situation hinterfragen? Ein Warnsignal ist es, „wenn dem Essen plötzlich zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wird und das mehr als sonst“, erklärt Dr. Lisa Tomaschek-Habrina, Psychotherapeutin und Leitung von sowhat, ein Institut für Menschen mit Essstörungen, das Behandlung auf Krankenkasse an den Standorten Wien, Mödling und am neu eröffneten Standort St. Pölten anbietet. Bedenklich wird es vor allem dann, wenn sich die Einstellung zum Essen grundlegend verändert, nicht mehr lustvoll gegessen wird und sich die betreffende Person auch in ihrem Wesen verändert. Häufig kommt es dabei zum sozialen Rückzug, der sich vor allem, aber nicht nur auf das Meiden von gemeinsamen Mahlzeiten bezieht. Häufig werden Essenszeiten nicht eingehalten oder Betroffene geben vor, bereits gegessen zu haben oder dann später mit anderen essen zu gehen, weiß Tomaschek-Habrina.
Die Sprache der Essstörung verstehen
Wenn sich der Verdacht auf eine Essstörung erhärtet, fühlen sich Angehörige oft, als ob eine unkontrollierbare Gefühlslawine über sie hinweg donnert. Die Situation ist von einem Nicht-Wahrhaben-Wollen geprägt. Die Lebenslage dementieren, doch anerkennen, beratschlagen und aufkeimende Gedanken wie „vielleicht ist das nur eine vorübergehende Phase“, „wie konnte es soweit kommen“, „wieso ausgerechnet mein Kind“ wechseln einander ab. Häufig gesellen sich in das ambivalente Gefühlswirrwarr auch noch nagende Schuldgefühle. Die Frage nach dem Warum drängt sich schmerzhaft in den Vordergrund und überlagert
zunächst den Mut zu handeln. Umso wichtiger ist es, über die Krankheit Bescheid zu wissen, um sie verstehen zu lernen. Speziell für Eltern ist es wichtig zu erfahren, dass es bei Essstörungen nie eine alleinige Ursache gibt. Eine Essstörung kann als körperliches und seelisches Sprachrohr für eine Vielzahl von unterschiedlichen Missständen verstanden werden.
Das klärende Gespräch
Eine der schwierigsten Herausforderungen für Angehörige ist es, die Dinge konkret anzusprechen. Das bedeutet, sich einer bewussten Konfrontation auszusetzen – einerseits mit den eigenen Ängsten, andererseits mit dem Empfinden des anderen. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie man die Situation überhaupt thematisieren kann. Tomaschek-Habrina rät: „Am ehesten kommt man mit den Betroffenen in Kontakt, wenn man ohne Vorwurf ausspricht, was man beobachtet und dabei unbedingt in der Ich-Form bleibt. „In letzter Zeit habe ich beobachtet, dass du immer weniger/mehr isst. Siehst du das auch so? Gibt es dafür einen Grund?“ oder „Ich habe gesehen, dass du dich nicht mehr mit denen Freundinnen triffst. Bist du einsam?“ Auch wenn man in solchen Situationen oft eine patzige Antwort bekommen wird, ist es wichtig, immer wieder Gesprächsangebote zu machen und das Thema nicht zu tabuisieren, nicht unter den Teppich zu kehren.“ Der geeignete Zeitpunkt für so ein Gespräch so Tomaschek-Habrina, ist sicherlich nicht zwischen Tür und Angel. Eventuell an einem neutralen Ort, bei einem Spaziergang oder man fragt, wann die Betroffene Zeit hätte um ein Anliegen zu besprechen.
(Mit-)Leben mit der Sucht
Wer mit ansehen muss, wie ein geliebter Mensch immer weiter in den Sog der Sucht gezogen wird, der droht mitunter selbst den Halt zu verlieren und in eine Art Co-Abhängigkeit zu geraten. Co-Abhängigkeit beschreibt die Tendenz der Angehörigen, das eigene Tun von den anderen, speziell den Süchtigen, abhängig zu machen und sich nur noch auf diese Person und ihre Erkrankung zu konzentrieren. „Eigene Impulse, Wünsche und Bedürfnisse werden zurückgestellt zum Wohle der Betroffenen.“, so Tomaschek-Habrina. „Was Co-Abhängige in ihrer Sorge nicht merken, ist, dass sie mit ihrem Verhalten die
Sucht der Tochter aufrechterhalten. Sie stellen durch ihre überverantwortliche Haltung erst eine Situation her, in welcher es keinerlei Grund für Betroffene gibt ihr Verhalten zu verändern.“ sowhat bietet hier Angehörigeninformationsabende an, wo explizit darauf Bezug genommen wird und Hinweise zum Umgang mit Essstörungsbetroffenen gegeben werden.
Die Verantwortung für die Genesung abgeben, loslossen
Viele essgestörte Mädchen und Frauen erleben es als erdrückend, wenn sie spüren, dass ihre Eltern nur noch für sie leben, weil sie sich dann ihrerseits verpflichtet fühlen, sich um sie zu kümmern und sich noch weniger trauen, ihren eigenen Weg zu gehen. Angehörige haben jedoch oftmals große Angst, die Verantwortung für die Genesung der Tochter abzugeben, weil sie befürchten, dass sie ‚abrutscht‘. Eine Mutter brachte dies treffend zum Ausdruck: „Wenn ich loslasse, habe ich Angst, es passiert etwas Schlimmes, aber wenn ich festhalte, wird alles nur noch schlimmer.“
Was kann man tun?
Magersüchtigen Personen sehen Essen häufig als Bedrohung. Aufforderungen wie „Du musst was Essen!“ oder wiederholte Ermahnungen „nicht so heikel zu sein “ führen häufig zu noch mehr Rückzug und Verweigerung und bewirken oft das Gegenteil vom Erhofftem. Dennoch sollten Betroffene erklären, warum sie bei gemeinsamen Mahlzeiten nicht teilnehmen. Ein wohlwollender Hinweis darauf , dass der Körper Nahrung braucht – wie ein Auto ohne Benzin und Öl auch nicht fahren kann ist jedoch hilfreich. „Bei bulimischem Verhalten ist es wichtig, Grenzen aufzuzeigen, wenn Lebensmittel verbraucht werden, die auch die übrige Familie braucht. Oft wird die verschmutzte Toilette zur Belastung für die ganze Familie. Bestehen Sie darauf, dass der Betroffene das Badezimmer sauber hält und somit die Verantwortung für sein Verhalten selbst trägt.
Wichtig ist vor allem, dass Sie sich als Angehöriger von der Krankheit abgrenzen – auch wenn das sehr schwer fällt. Das bedingt auch, nichts zur Aufrechterhaltung des Krankheitsmechanismus beizutragen. Vermeiden Sie es auch, sich von den Betroffenen bekochen zu lassen. Auch das ist ein typisches Symptom der Krankheit. Trotz einer gewissen Konsequenz sollten Sie der erkrankten Person immer ein Gefühl der Wertschätzung vermitteln. Dazu die sowhat Expertin Tomaschek-Habrina: „Es ist wichtig, den Betroffenen klarzumachen, dass sie kostbare Menschen sind, dass sie alles Recht haben, auch ihre Meinungen zu vertreten, dass sie Ihnen wichtig sind, so wie sie sind – vor allem so wie sie vor der Krankheit waren – dass Sie ihnen die ganze Fülle des Lebens gönnen und nicht nur mehr diese schmale Bandbreite begrenzt von Einschränkungen, Selbsthass, Selbstbestrafung und eigener Abwertung.“
Mut zur Selbsthilfe
Bei aller Verbundenheit zu der erkrankten Person dürfen Sie nicht auf sich und ihre eigenen
Bedürfnisse vergessen. Manchmal brauchen Angehörige selbst therapeutische Hilfe, speziell dann, wenn der Betroffene Hilfe partout verweigert oder häufige Rückschläge erleidet. „Das entlastet die schwierigen Beziehungen, die von der Krankheit geprägt sind und macht den Betroffenen letztlich auch Mut, selbst auf therapeutische Unterstützung zurückzugreifen“, weiß Tomaschek-Habrina. Entscheidend sei auch das Bewusstsein, dass nur der Betroffene selbst die Verantwortung für den Gesundungsprozess übernehmen kann. „Je früher Betroffene fachgerechte Hilfe in Anspruch nehmen, umso größer ist die Chance, dass sie die Essstörung nicht mehr als Lebensbewältigungsstrategie brauchen, sondern wieder all ihre Ressourcen für ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben zur Verfügung haben.“
Welche Ursachen kommen in Frage?
Fast immer basieren die unterschiedlichen Erkrankungsformen auf einem Geflecht von vielen Auslösern. Familiäre Verstrickungen können ebenso dazu beitragen wie soziokulturelle Einflüsse und traumatische Erlebnisse. So tragen gesellschaftliche Schlankheitsdiktate zweifelsfrei zum Vergleich und zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper bei. Auch die Persönlichkeitsstruktur begünstigt die Suchterkrankung. Nicht umsonst heißt es „Hunger nach Anerkennung“. Diskutiert werden auch genetische Prädispositionen.
Welche Auswirkungen haben Essstörungen?
Essstörungen können Beschwerden, sowohl auf körperlicher als auch auf seelischer Ebene nach sich ziehen. Langfristig kommt es zu Problemen im Umgang mit anderen Menschen, die auf Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstwertdefiziten basieren. Auch Depressionen und Angsterkrankungen treten häufig auf. Körperliche Auswirkungen einer Anorexie sind vor allem Blutarmut, ein niedriger Puls, Verdauungsbeschwerden, hormonelle Veränderungen und Nierenproblemen. Langfristig kann Magersucht zur Herzschädigung und im schlimmsten Fall zum Tod führen. Bulimie verursacht unter anderem Elektrolytstörungen und Zahnschäden. Bei einer langjährigen Erkrankung kann es auch zu gefährlichen Herz-Rhythmusstörungen und zu chronischen Entzündungen der Magenschleimhaut kommen.
Binge Eating und Adipositas zieht Langzeitfolgen wie Gelenksprobleme, Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes nach sich.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Essstörungsbetroffene sollten professionelle Hilfe in spezialisierten Einrichtungen suchen, die sowohl psychotherapeutische als auch medizinische Begleitung in Kombination anbieten können. Da die Auswirkungen auf der psychischen, körperlichen und sozialen Ebene vielfältig sind ist ein multimodaler Ansatz, der mehrerer Behandlungsstrategien integriert notwendig. Weil Betroffene oft keine Krankheitseinsicht zeigen und sich gegenüber therapeutischen Maßnahmen ablehnend verhalten können Therapien langwierige Verläufe haben. Wenn ambulante Maßnahmen keinen Erfolg bringen und/oder kritisches Untergewicht besteht, ist eine (teil-)stationäre Behandlung erforderlich.
Gibt es Präventionsmaßnahmen?
Vermutlich gibt es kein Patentrezept, erwiesen ist, dass seelisch gesunde Kinder, die gleichermaßen soziale und familiäre Wertschätzung erfahren, einen guten Bezug zu sich selbst und ein gesundes Selbstbewusstsein besitzen, ein deutlich geringeres Risiko für Suchterkrankungen aufweisen.
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