Spricht man von Bindung, geht es vorwiegend um Sicherheit. Vor allem Rituale geben Sicherheit und Halt. Man denke nur daran, wie genau Kinder immer wieder den gleichen Text hören wollen, wenn man zum Beispiel ein Märchen vorliest oder Fingerspiele mit ihnen macht. Da darf kein Wort fehlen. In bewegten Zeiten geben Rituale besonders Halt (Wenn z.B. ein Neugeborenes in die Familie kommt, zu Weihnachten, in Krankheit, bei verschiedenen Festen, Geburtstagen, bei einem Todesfall, in Übergangszeiten, z.B. beim Wechsel vom Kindergarten in die Schule, bei Schulwechsel etc.)
Sicherheit gehört zu den Tiefenbedürfnissen von uns Menschen. Vielleicht kann man statt Sicherheit auch Bindung oder auch Geliebt-werden sagen. Jeder Mensch braucht Menschen, die ihn lieben, verstehen oder zumindest verstehen wollen, und es braucht Menschen, die den jeweils anderen verstehen wollen, auch wenn es manchmal schwerfällt. Es braucht Menschen, die Sicherheit ausstrahlen und verkörpern, Menschen, denen Beziehung wichtig ist. Beziehungen bewusst zu gestalten, ist das Heilsamste, was wir leben können.
Fühlt sich die Bindungsperson selbst sicher, ist das die beste Voraussetzung für eine sichere Bindung zum Kind. Dasselbe gilt für das Bindungssystem zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen, Therapeutinnen und Klientinnen, Kindergartenpädagogen und Kleinkindern, Arzt und Patienten … Nur wenn wir selbst gut stehen, können wir andere gut halten.
Indem uns unsere Bindungs- und Bezugspersonen beruhigen, lernen wir, wie wir uns selbst beruhigen können. Ein Erwachsener, der ein Kind beruhigt, beruhigt das Nervensystem dieses Kindes durch Zuwendung, durch körperliche Nähe, durch Trost, durch Halten. Dadurch entspannt sich das Nervensystem, das aus der Balance geraten ist.
Diese Erfahrungen der Coregulation ermöglichen Kindern im Laufe der Zeit Selbstregulationsfähigkeit zu entwickeln.
In diesem Artikel werde ich mich darauf ausrichten, welche stärkenden Rituale Bindungspersonen für sich selbst finden können, um sichere Personen für sich selbst und die ihnen Anvertrauten sein zu können. Rituale, die man selber entwickeln kann und die einem persönlich entsprechen und in den eigenen Tagesrhythmus passen, lassen sich dann leichter finden, wenn man diesen Zusammenhang in der Tiefe versteht.
Die zentrale Frage ist: was gibt mir Kraft und Inspiration, was sind meine Kraftquellen, vor allem die, die mit Verbundenheit zu tun haben?
Selbstfürsorge und Wohlwollen für sich selbst und andere sind der Boden, auf dem wir sicher stehen. Diese Energie der Selbstführung zu spüren, ist überaus kraftspendend, ebenfalls, eine Klarheit darüber zu haben, wer und wie ich sein möchte. Und es gilt, ein Bewusstsein zu entwickeln für meine Bedürfnisse, also dafür, was ich brauche.
Mit mir in Kontakt zu sein, bedeutet, meine Bedürfnisse wahrzunehmen und meine Grenzen zu spüren und zu kommunizieren, denn ohne gesunde Grenzen gibt es keine Sicherheit. Es ist gut, zu wissen, was mir schadet und was ich brauche, und es ist notwendig, mich nicht mit einem Perfektionismus selbst zu überfordern und mich dadurch zu schwächen, mich nicht aufzuopfern oder gefallen zu wollen.
Wie kann ich Gelegenheit finden, sichere Bindung zu lernen, zu finden und zu gestalten? Wie kann ich ankommen im Empfinden sicherer Bindung?
Wie finde ich das, was mich sicher fühlen und empfinden lässt?
Stoßzeiten und störanfällige Zeiten im Laufe des Tages sind meist morgens, mittags und abends, Übergangszeiten. Es gilt, diese Zeiten gut und bewusst zu gestalten.
Immer wieder: mich sammeln. Inne- halten. Bewusst atmen.
Fangen wir am Morgen an!
Was können wir tun?
# Nehme ich mir ein bisschen Zeit, bevor ich aufstehe-Zeit, um mich zu dehnen, zu recken und zu strecken, die Schwerkraft zu spüren, zu spüren: ich bin getragen, ich kann hineinsinken in die Schwerkraft, mich fallen lassen? Oder falle ich in Gedanken sofort in meine To- Do Liste, in die Enge meiner Sorgen? So oft sind wir schon morgens im Stress, wenn auch „nur“ gedanklich, und dadurch werden unsere Gedanken und in der Folge auch unser Körper immer enger.
Wie viel wohltuender und stärkender ist es, noch im Bett, bevor ich aufstehe, – und da lohnt es sich, den Wecker etwas früher zu stellen-sozusagen -einzuchecken bei mir selbst, nach innen – zu mir selbst zu kommen.
Psychohygiene vor Körperhygiene!
Einchecken bei mir, was heißt das?
# Bin ich dankbar für den neuen, mir geschenkten Tag? Spüre ich, was in mir ist und spüre ich vielleicht, dass im Moment alles gut ist?
# Fühle ich meinen Körper, kann ich wahrnehmen, wo er sich meldet, vielleicht mit einem Schmerz, mit einem Druckgefühl in der Magengegend, mit einem verspannten Nacken? Mit einem Ziehen? Kann ich diesen Zeichen meines Körpers mitfühlend und wohlwollend begegnen, vielleicht meine warme Hand auf die schmerzende, verspannte Stelle legen und wirklich in Kontakt gehen mit dieser Stelle, sie innerlich anerkennen, sie da sein lassen, wohlwollend in Beziehungen mit ihr gehen? Werden die Teile in mir, die da sind, die ich aber, weil sie mir unangenehm sind und deswegen oft weghaben möchte, gesehen, werden sie wahrgenommen von mir, gehalten?
Wenn ich diese kleinen Zeichen meines Körpers übergehe, immer und immer wieder, wenn ich nicht in Verbindung gehe mit ihnen, wie kann ich dann Verbundenheit leben, eine sichere Person sein für mich und andere, eine Bindungs- Person sein, womöglich für Kleine, Schwache?
Bindungsfähigkeit fängt also bei mir an.
# Meine Gefühle? Kann ich sie wahrnehmen, fühlen? Gebe ich ihnen Platz, Raum, Halt in mir? Vielleicht bin ich schlecht gelaunt, gereizt. Kann ich das wahr-nehmen? Kann ich dieses Gefühl da sein lassen? Kann ich mir in der Folge von diesem Gefühl zeigen lassen, was ich brauche? Nach welchem Bedürfnis verlangt dieses Gefühl? UND: kann ich neben diesen vielleicht unangenehmen Gefühlen auch angenehme wahrnehmen oder bleibe ich „kleben“ bei den unangenehmen, identifiziere ich mich mit diesen Teilen?
# Ich kann zu mir selber kommen, indem ich z.B. meine Körpergrenzen mit meinen Händen abtaste, um zu spüren, wo meine körperlichen Grenzen sind.
# Und ich kann in der Folge mit meiner Aufmerksamkeit nach außen und damit in die Weite gehen, mich im Raum, in dem ich mich befinde, orientieren, einmal tief atmen und dem Versuch widerstehen, sofort in den Aktivmodus-wenn auch nur gedanklich- zu gehen.
# Komme ich an am Beginn des Tages, im EMPFINDEN sicherer Bindung, kultiviere ich dadurch sichere Bindung? Erfahre ich Bindungssicherheit für mich? Suche ich sichere Bindung, um sie dann auch anbieten zu können?
Und kann ich Verbundenheit spüren, zu mir, zu denen, die zu mir gehören, zu meinen Freunden, meine Nachbarn zu den Menschen in aller Welt?
Spüre ich, dass ich gehalten bin, nicht alles wissen, nicht alles richtigmachen muss, dass ich letztlich nicht Schöpferin meines Lebens bin, sein muss, sondern Geschöpf und komme ich dadurch in die richtige Relation?
Das kann jetzt ein kleines Morgen-Ritual sein, um Bewusstheit zu schaffen, bevor ich meinen Verpflichtungen nachgehe.
Ich schaffe Bewusstheit über meine Würde und Bewusstheit darüber, dass ich letztendlich geliebt bin, auch wenn ich es im Moment vielleicht nicht spüren kann. Und dieses Ritual, diese Zuwendung zu mir bringt ganz viel Verbindung und dauert gar nicht lange.
Während des Tages und mittags:
Was können wir tun?
Es tut gut, mir während des Tages immer wieder bewusst zu sein, dass wir als Menschen zutiefst auf Bindung ausgerichtet sind. Daher ist Trennung und Unverbundenes etwas sehr Bedrohliches. Da, wo wir Stress erleben, wenden wir uns oft von uns selbst und unseren Mitmenschen ab, gehen aus der Verbindung. Dies ist auch ein Symptom, das wir auch kollektiv beobachten können. Es ist wichtig, folgendes zu verstehen: Wir neigen in Konfliktsituationen oder in anderen stressigen Situationen dazu, Verbindung abzubrechen, unsere Sprache wird trennend, vergleichend, beurteilend und kritisierend. Auch die Verbindung zu unserem Inneren schneiden wir dann ab. Wenn die Verbundenheit zu mir selbst unterbrochen wird, wird leider auch oft die Verbindung mit dem, was mir guttut und mich stärkt, mit meiner Kraft unterbrochen. Ich tue dann auch nicht, was mir guttut.
Was können wir tun?
# Pausen machen, lernen, mit mir allein zu sein, Ruhe-Pausen, Ausatempausen, bewusst tief einatmen und langsam ausatmen. Sich zurücklehnen und entspannen, 5 Sekunden genügen! Einfach einmal da sein. Nichts tun zu müssen und nichts zu versäumen, das beruhigt unser Gehirn, unseren Körper, unser Nervensystem.
Ich kann damit ganz niederschwellig anfangen und nicht den Fehler machen, mich der großen Aufgabe zu stellen, in die Stille zu gehen und dort lange zu verweilen –das ist zeitlich oft nicht möglich und kann sich zudem bedrohlich anfühlen.
# Ich kann dem Kind z.B. bewusst zuhören, nachfragen, Augenkontakt herstellen, Ruhe und Behaglichkeit herstellen, Schönheit wahrnehmen, da sein-auch das stärkt die Bindung enorm.
# Die Schwerkraft bewusst spüren mit meinen Füßen auf dem Boden, mit meinem Gesäß und meinen Oberschenkeln auf dem Stuhl. Mich hineinsinken lassen in das, was mich trägt.
# Inne-halten, unsere Aktivitäten verlangsamen, mir Zeit nehmen, um den Augenblick wahrzunehmen und mich in der Sicherheit zu verankern. Mich darin üben, mich nicht darauf auszurichten, was mir fehlt, sondern wahrzunehmen, was da ist, was jetzt gut ist. Handy weg und nichts tun, spüren, und wenn es nur 1 Minute ist. Ankommen bei mir. Immer wieder.
# Mir Zeit nehmen, zu spüren, Zeit nehmen dafür, dass es in mir sowohl als auch gibt, sowohl Müdigkeit als auch Freude, Traurigkeit und Hoffnung, Verzweiflung und Geborgenheit… Das ist deshalb so wichtig, weil wir im Stress eng werden und zu einem Entweder-oder Denken neigen, schwarzsehen und auch andere nicht mehr gut wahrnehmen können.
# Anerkennen, was jetzt gerade ist und die Absolutheitsansprüche bewusst aufgeben. Ja, es ist jetzt so und es darf auch jetzt einmal so sein.
# Sich Mini-Auszeiten nehmen, rät Kati Bohnet, eine Traumatherapeutin und Expertin für Stressregulation im Alltag mit Kindern. Sie ist ein großer Fan der „Klo-Regulation“-angelehnt an den Begriff Co-Regulation-, was bedeutet, dass sie sich eine extra Minute gönnt und die Zeit auf der Toilette dazu nützt, um sich kurz mit sich selbst zu verbinden, eine somatische Achtsamkeitsübung zu machen, eine Übung zur emotionalen Ersten Hilfe oder zur Stressregulation. Sich einfach diese kleine Zeit bewusst für sich zu nehmen.
# Immer wieder die Meta -Ebene einnehmen, mich selbst sozusagen aus einem Abstand zu betrachten: wo stehe ich grad? Was brauche ich? Habe ich auch das Bedürfnis meines Gegenübers im Blick? Kann ich mich selbst regulieren und mein Gegenüber co-regulieren?
Dabei geht es nicht darum, mich immer im Zustand der Regulation zu befinden. Viel wichtiger ist es, zu bemerken, wann wir daraus herausgerissen werden.
AM ABEND:
Was können wir tun?
# Ein kleiner Tagesrückblick, den ich vor dem Schlafengehen mache, lässt mich wahrscheinlich besser schlafen als wenn ich übergangslos und erschöpft ins Bett falle. Und oft ist es so, dass mein Morgen besser ist, wenn mein Abend gut war.
# Ein Dankbarkeitsritual entspannt mich immer. Es sind die kleinen Dinge, Begegnungen, Augenblicke, denen ich vielleicht im Trubel des Tages gar keine Beachtung geschenkt habe, für die ich mir aber jetzt Zeit nehmen kann, um sie nachzuempfinden, zu fühlen. Manche schreiben Dankbarkeitstagebücher. Das kann manchmal mechanisch werden. Es geht darum, wirklich zu spüren, wie mich Dankbarkeit durchströmt.
# Reflektieren: wo, wie oft, wie lange war ich im Aktivitätsmodus? Wie oft war ich in der Erschöpfung? Hängen diese beiden Zustände zusammen?
Wie oft fühlte ich mich verbunden mit mir und anderen?
Anspannung-Entspannung. Waren die beiden in Balance? Waren Anspannung und Entspannung in einem ausgeglichenen Rhythmus? Hatte beides Platz in meinem Tag? Bin ich in meine Kraft gekommen?
Kann ich mich selbst gut versorgen, auch mit Hilfe von Ritualen, ist es wesentlich leichter, auch z.B. ein Kind zu versorgen.
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