Hochsensitivität/Hochsensibilität ist keine psychische Störung oder Krankheit, vielmehr handelt es sich um eine vererbte Persönlichkeitseigenschaft, die bei ca. 20 – 30% der Bevölkerung auftritt und unter stimmigen Bedingungen als wertvolle Ressource und Begabung erlebt werden kann.
Wie bei hochsensitiven Erwachsenen ist auch bei den ebenso veranlagten Babys und Kindern ihre Wahrnehmung und Reizverarbeitung aufgrund einer besonderen neuronalen Veranlagung differenzierter und intensiver als bei den meisten anderen Menschen. Sie nehmen mehr subtile Informationen auf, denken viel nach und spüren auch auf der Gefühlsebene alles viel intensiver. Ihre Reizoffenheit und Sensibilität macht sie allerdings auch verletzlicher und schneller reizüberflutet. Hochsensitive Babys/Kinder brauchen meist besondere Nähe und Aufmerksamkeit (anfangs oft ausschließlich durch die Mutter), um zu lernen, mit ihrer speziellen Wahrnehmungsweise selbstbewusst umzugehen. Für Eltern und ihre Bezugspersonen stellt ein hochsensitives Kind oft eine große Herausforderung dar.
Hochsensitive/hochsensible/hochreaktive Babys
Die meisten hochsensitiven Kinder können bereits als Babys von ihren Eltern oder Fachpersonen als „anders“ oder bei entsprechendem Wissen als „hochsensitiv/hochsensibel/hochreaktiv“ erkannt werden. (Exkurs: Der Begriff „hochreaktiv“ stammt vom US-Psychologen Jerome Kagan aus Studien bei Babys zu Persönlichkeit und Bindungsverhalten. „Hochsensitiv“ wäre die korrekte Übersetzung von „highly sensitive“ – der von Elaine Aron ab 1996 geprägten Bezeichnung für diese Persönlichkeitseigenschaft. Im deutschen Sprachraum stoßen wir außerdem auch noch häufig auf das Adjektiv „hochsensibel“. In diesem Beitrag meinen alle drei Begriffe dasselbe.)
Mögliche Anzeichen, woran ein hochsensitives Baby erkannt werden kann:
- Es sucht ständig Körperkontakt und will dauernd getragen werden (- sonst schreit es).
- Es erschrickt sehr leicht.
- Es ist sehr einfühlsam.
- Es kann nach einem aufregenden Tag nur schwer einschlafen.
- Es registriert Details und plagt sich mit Veränderungen.
- Es ist schon früh merkbar, dass das Kind ein intensives Gefühlsleben hat.
- Möglicherweise lässt sich das Baby von niemandem anderen nehmen und beruhigen als von seiner Mutter (ev. auch noch vom Vater).
Hochsensitive Kinder im Vorschul- und Schulalter
Die meisten hochsensiblen Kinder sind eher introvertiert (ca. 30 % jedoch sind extravertiert). Unvorhergesehene Änderungen bereiten ihnen Unbehagen. Sie denken sehr viel nach, sind außergewöhnlich empathisch und stellen schon in jungen Lebensjahren tiefgründige Fragen. Sie sind sehr sinnlich und reagieren oft empfindlich auf taktile Reize, laute Geräusche oder bestimmte Gerüche.
Viele hochsensitive Kinder sind perfektionistisch veranlagt und Ungerechtigkeiten sind für sie sehr schwer auszuhalten.
Mögliche Reaktionen auf Reizüberflutung
- Tobsuchtsanfälle oder Wutausbrüche, manchmal auch Widerstand oder aggressives Verhalten
- Versuch, keinen Ärger zu machen, vollkommen gehorsam zu sein, in der Hoffnung, so gar nicht bemerkt oder überfordert zu werden
- Still werden und Rückzug
- Rückzug in Fantasie oder virtuelle Welten
- Perfektionismus und Streben nach herausragenden Leistungen, um mutmaßliche Defizite zu kompensieren
- Bauch- und/oder Kopfschmerzen
- Ängstlichkeit, Hoffnungslosigkeit
Mögliche Fehl- und Doppeldiagnosen
Trotz mittlerweile mehrjähriger Erforschung der hochsensitiven Veranlagung ist der Wissensstand sowohl in der Normalbevölkerung als auch bei zahlreichen Fachleuten meist noch ausbaufähig. Zahlreiche Kennzeichen und Verhaltensweisen hochsensitiver Kinder können Symptomen ähneln, die zu Fehlgutachten führen können.
Bei hochsensitiven Kindern wird z. B. fälschlicherweise oft ADS (= die hypoaktive „stille“ Form des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms) oder ADHS (= die hyperaktive Form des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms) diagnostiziert.
Weitere immer wieder fälschlicherweise diagnostizierte Störungen sind Autismus, Angststörungen und Verhaltensstörungen; im Jugend- und Erwachsenenalter dann mitunter auch Depressionen, Emotionale Instabilität, Süchte, Co-Abhängigkeiten und Zwangsstörungen.
Grundsätzlich können hochsensible Kinder und Erwachsene natürlich unter allen psychischen Erkrankungen leiden wie andere Menschen auch und es gibt immer wieder berechtigte „Doppeldiagnosen“. Oftmals verschwinden die psychischen Symptome bei Hochsensitiven jedoch dann, wenn sie lernen, mit sich und ihrer Hochsensitivität gut umzugehen und sich ein Umfeld zu schaffen, in dem sie auf ihre ganz individuelle Weise „wachsen und gedeihen“ können. Insbesondere hier zeigt sich, welch große Verantwortung Eltern und Bezugspersonen in der Begleitung hochsensitiver Kinder zukommt.
Gefühlsstarke Kinder
Der Begriff „Gefühlsstarke Kinder“ wurde in den letzten Jahren von der Journalistin Nora Imlau geprägt, die 2018 den Bestseller „So viel Freude, so viel Wut“ im Kösel-Verlag herausgegeben hat. Die Autorin selbst erwähnt den Begriff „Hochsensitivität“ in ihrem Buch nicht, jedoch beschreibt sie gefühlsstarke Kinder als meist sehr sensibel. Aus der Erfahrung in meiner psychotherapeutischen Praxis reagieren hochsensitive Kinder meistens dann „gefühlsstark“, wenn sie überreizt sind und noch nicht gelernt haben, mit ihren starken Emotionen umzugehen.
Gefühlsstarke Kinder zeichnen sich durch eine bestimmte Kombination einiger Temperamentsmerkmale aus. Ihr Aktivitätsgrad ist sehr hoch, sie sind sehr stark in ihren Emotionen und Ausdrucksweisen und sie haben meist große Probleme, sich selbst zu regulieren. Oft sind sie auch leicht ablenkbar und es fällt ihnen schwer, sich an ein wechselndes Umfeld anzupassen. Je ausgeprägter diese Eigenschaften sind, desto schwieriger ist der Umgang mit einem gefühlsstarken hochsensitiven Kind (- je nachdem, wie gut sich das häusliche und schulische Umfeld darauf einstellen können). Wichtig ist, einem gefühlsstarken hochsensitiven Kind zu helfen, wie es lernen kann, seine Gefühle regulieren zu lernen und diesen auf angemessene Art und Weise Ausdruck zu verleihen.
Tipps für den Umgang mit einem hochsensitiven Kind:
😊 Lassen Sie es sein wie es ist! (Ihr Kind ist ok!)
😊 Üben Sie sich in Geduld! (Vieles dauert mit einem hochsensitiven Kind länger.)
😊 Achten Sie auf Struktur (räumlich, zeitlich, organisatorisch)!
😊 Finden Sie eine Balance zwischen „Schützen“ und „Stupsen“! (Hochsensitive Kinder brauchen Verständnis für ihre Zurückhaltung sowie Ermutigung zu neuen Erfahrungen gleichermaßen.)
Literaturtipps:
Aron, Elaine: Das hochsensible Kind; mvg Verlag, 2004
Aron, Elaine: Hochsensible Eltern; mvg Verlag, 2020
Imlau, N.: So viel Freude, so viel Wut; Kösel-Verlag, 2018
Buchtipps für hochsensitive Kinder (und ihre Bezugspersonen):
Hanke-Basfeld, Magdalene: Philipp zähmt den Grübelgeier. Festland Verlag, 2015
Heine, Hannah-Marie, Schulmeyer, Heribert: Tausendfühler Lars – Eine Geschichte über Hochsensibilität. Balance Verlag, 2019
Kommentare
Bettina
Was für ein wertvoller Beitrag und dazu so schön verständlich geschrieben. Ich konnte mich gut in allen Punkten wiederfinden und meine Kindheit Revue passieren lassen und hätte mir gewünscht, dass es genau diesen Artikel schon zu meinen Zeiten für meine Eltern gegeben hätte.
Alexandra
Liebe Redaktion, vielen Dank für diesen tollen Artikel. Ich kann alles genau so bestätigen. Unsere Tochter ist jetzt 10 Jahre alt und ein sehr wertvolles Kind! Es ist eine große Herausforderung seit dem 1. Tag nach der Geburt. Ständiges schreien, schnell überreizt, ständiges aufwachen und versichern das man noch auf der Mama liegt. Daneben ist schon zu weit weg. Auch heute schlafen wir noch im Familienbett. Die größte Herausforderung ist das einschlafen. Alle Reize, alle Sorgen des Tages und der ganzen Welt ( Krieg) kommen am Abend hoch und es wird viel geweint. Es wird sich hineingesteigert. Habt ihr dafür noch Tipps? Alles Liebe Alexandra