Spiel – Erlebnis – Entwicklung
„Heute bin ich ein Schmetterling!“ ruft Line. „Und ich eine Rakete!“ Max drängt sich zu mir. „Du musst heute von der Rakete erzählen!“ „Und vom Schmetterling!“ insistiert Line.
„Einverstanden!“ antworte ich. „Aber zuerst fangen wir wie immer an. Kommt bitte zu mir in den Kreis.“
Line, Max und 4 andere Kinder setzen sich mit ihren Elternteilen zu mir, und wir beginnen unsere Bewegungseinheit mit einem Lied. Dann wird zu Musik gelaufen, und in den Musikstopps können die Kinder Ideen sagen, was zu tun ist. Zora schlägt vor, dass wir eine Schlange sein sollen. Danach bauen wir Bewegungsanlässe auf. Der Bewegungsraum wird dadurch zu einem Erlebnisraum, einem Spielraum, einem Erfahrungsraum und damit zu einem Entwicklungsraum.
Die Kinder bewegen sich frei auf den Stationen und gehen dabei ihren eigenen Bedürfnissen nach.
Ob die Kinder eher in die Tiefung oder in die Weitung ihrer Kompetenzen gehen, ist mir gleichermaßen recht. Ich begleite sie in ihrem Tun, indem ich ihnen zuschaue, sie mit meinem liebevollen Blick, meinem bestärkenden Nicken oder meinem aufmunternden Lächeln unterstütze.
Die Mütter und Väter tun es mir gleich und sind dort zur Stelle, wo die Kinder Sicherheit durch Nähe brauchen, sei es durch eine stützende Hand oder ein ermutigendes Wort.
Eltern sind auch Gruppenteilnehmerinnen
In einem Vorgespräch haben die Eltern erfahren, dass es in meiner Arbeit um Entwicklungsförderung durch Bewegung geht, nicht um Bewegungsförderung.
Sie wissen, dass die Einheiten sowohl angeleitete Spielphasen mit der gesamten Gruppe als auch von den Kindern selbstgestaltete Anteile enthalten und einen ritualisierten Ablauf haben.
Ziel jeder Stunde ist es, dass die Kinder unterschiedlichste Erfahrungen sammeln können und dadurch über die Zeit ihre Kompetenzen auf der motorischen, sozialen, emotionalen, volitionalen, kognitiven und sprachlichen Ebene erweitern können.
Mütter und Väter beteiligen sich also am kindlichen Tun, entweder durch Mitspielen oder durch Beobachten und Sicherheit bieten. Sie vermitteln den Kindern, dass es spannend ist, etwas Neues auszuprobieren und zu entdecken. Sie ermutigen die Kinder, Wagnisse einzugehen. Sie unterstützen Kinder, wenn sie das Gewohnte verlassen und einen Schritt ins Unbekannte wagen.
Je besser wir Erwachsenen uns erinnern, was uns selbst Freude gemacht und angeregt hat, als wir noch Kinder waren, umso besser können wir bedürfnis- und entwicklungsorientierte Begleiterinnen und Begleiter unserer Kinder sein.
Bevor wir zum gemeinsamen Ende der Stunde kommen, erzähle ich noch die am Beginn erbettelte Geschichte vom Schmetterling und der Rakete, und Line und Max flattern und fliegen dazu durch den Raum.
Nach einer Massage, die dem Wohlfühlen und zur Ruhe kommen dient, beende ich die Einheit. Die Kinder holen ihre Jause und wir alle – die Kinder, ihre Eltern und ich – sitzen noch gemütlich bei Wasser und Nüssen zusammen und lassen die gemeinsame Stunde genussvoll ausklingen.
Intergeneratives Pionierprojekt
Wir sind in einem Wiener Altersheim. Im Sesselkreis sitzen 5 alte Damen und 2 alte Herren. Wir warten auf die Kinder aus dem benachbarten Kindergarten, um eine gemeinsame Bewegungsstunde nach den Prinzipien der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung zu verbringen. Dieses intergenerative Angebot ist ein Pionierprojekt und wird von der Wiener Gesundheitsförderung (WiG) in Kooperation mit dem Aktionskreis Motopädagogik Österreich (AKMÖ) durchgeführt.
Auch diese Bewegungseinheit verläuft in dem für die österreichische Psychomotorik typischen Phasenmodell [1]. Nach einem Begrüßungslied schaltet meine Kollegin die Musik ein und alle bewegen sich durch den Raum oder im Sitzen auf dem Platz. Wesam (4) schiebt vorsichtig den Rollstuhl von Frau Elisabeth (96), während Herr Raimund (93) versucht, Musab (5) beim Laufen zu erwischen. Die an Demenz erkrankte Frau Lotte (89) hängt sich bei mir ein und singt den alten Schlager mit, den meine Kollegin als Musikstück ausgewählt hat.
Auch diese Gruppe löst beim Musikstopp Aufgaben. Diesmal werden sie von der Motogeragogin angesagt: „Wir begrüßen einander mit den Zehenspitzen!“ und „Nun mit den Ellbogen!“
Der Hauptteil der Einheit beginnt mit der Aufgabenstellung, mit dem mitgebrachten Material zu experimentieren, es zu erforschen und miteinander zu spielen.
Das Herzstück jeder Bewegungseinheit ist diese Phase des selbstbestimmten Tuns. Jeder Mensch ist frei, seinen eigenen Impulsen nachzugehen, seine Ideen zu verfolgen, seiner Kreativität freien Lauf zu lassen.
Auch wenn es sich hier um ein intergeneratives Projekt handelt und es unser Wunsch ist, dass Kinder mit alten Menschen in Kontakt kommen, so wird dieser Kontakt nie „inszeniert“. Begegnungen und Beziehungen entstehen aus dem gemeinsamen Tun, das in den ersten Einheiten auch nebeneinander stattfinden durfte. Die beiden Dialoggruppen werden von der Motopädagogin und der Motogeragogin gleichermaßen wichtig genommen. Wir achten darauf, dass nicht eine der beiden Altersgruppen, der anderen „dienlich“ ist. Es geht um ein freudvolles Miteinander von beiden Seiten.
Diese intensive Phase der Aktivität endet mit einem gemeinsamen Spiel, an das eine Entspannungssequenz und eine gemeinsame Reflexion anschließen.
Menschen, egal ob jung oder alt, die in Österreich ein psychomotorisches Angebot besuchen, kommen oft auf Empfehlung einer Pädagogin oder weil Eltern nach einem leistungsfreien Entwicklungsraum für ihr Kind suchen.
Ziel unserer Angebote ist es, eine Umgebung und Atmosphäre zu gestalten, die zu Eigenaktivität und Selbsttätigkeit anregen. Grundlage dafür ist eine gute Beziehung der Motopädagogin/Motogeragogin zu ihren Gruppenmitgliedern und ein anregendes Angebot im Bezug auf die Fragestellungen und das Material. Jede Einheit soll für jede Teilnehmerin, egal welchen Alters, Selbstwirksamkeitserfahrungen und erfolgreich bewältigte Situationen beinhalten. Wir sind überzeugt, dass Erfolg und das damit verbundene Gefühl „Ich kann etwas!“ der Motor für Beteiligung und Entwicklung sind – über die gesamte Lebensspanne hinweg.
Selbsttätigkeit (ich tue) und Selbstwirksamkeit (ich kann) sind die Voraussetzungen zum Aufbau eines stabilen positiven Selbstwertes (ich bin)[2]. Ob es nun für junge Menschen gilt, Kompetenzen aufzubauen oder für alte Menschen, ihre Kompetenzen möglichst lange zu erhalten, immer ist es die Aufgabe der Motopädagogin und der Motogeragogin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das ermöglichen.
Und dass dieses Konzept aufgeht, erfahre ich jede Woche, wenn ich in die glänzenden Augen der Kinder schaue, wenn sie wieder etwas Neues entdeckt haben oder wenn Frau Elisabeth sagt: „Die Zeit mit euch und den Kindern ist für mich ein besonderes Geschenk.“
Links:
https://www.youtube.com/watch?v=pC7ZbkKSMwc&t=10s
https://akmoe.at/angebote/ferien-mit-schwung
https://akmoe.at/angebote/so-move
[1] Passolt, M. / Pinter-Theiss, V. (2003) „Ich habe eine Idee – Psychomotorische Praxis planen, gestalten und reflektieren“
[2] Pinter-Theiss, V. / Steiner-Schätz, M. / Lukesch, B. / Schätz, T. / Theiss, C. (2014): Ich tue, ich kann, ich bin. Psychomotorische Entwicklungsbegleitung in Theorie und Praxis.
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