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Und nun? Wenn Jugendliche Schwierigkeiten in und mit der Schule bekommen

von Andreas Reinke

Elternbildung
Elternbildung
Elternbildung

Per E-Mail melden sich Finns Eltern bei mir. Sie würden angesichts der gegenwärtigen Schulsituation ihres vierzehnjährigen Sohnes nicht mehr weiterwissen. Finn würde nicht mehr richtig mitmachen, ständig aufbegehren und den Ernst der Lage nicht verstehen. Er sei offensichtlich vom Weg abgekommen. Auch seine Lehrer:innen würden sich große Sorgen machen. Im letzten Elterngespräch hätten die Lehrer:innen den Besuch eines Therapeuten empfohlen. Schließlich könne es so nicht weitergehen. Finn störe den Unterricht, verstöße gegen Regeln, zeige zu wenig Respekt. Finns Eltern und ich treffen uns zum Gespräch.

„Was können wir nur mit unserem Sohn machen?“Elternbildung

Finns Eltern fragen mich, was sie falsch gemacht haben und was sie mit ihrem Sohn machen können. Ich schaue die Eltern freundlich an und sagte: „Nichts.“ Dem Blick der Mutter entnehme ich, dass sie mich für verrückt oder inkompetent hält. Oder beides. Sichtlich irritiert möchte sie wissen, wie ich das meine. Ich nippe an meinem Kaffee und antworte: „Ich meines es ganz genauso. Abgesehen davon, dass Sie aus meiner Sicht nichts falsch gemacht haben, können Sie mit Finn nichts machen. Ich sage das nicht, weil ich nett sein will oder der Meinung bin, dass Ihr Sohn ein hoffnungsvoller Fall ist. Ich sage das, weil ich davon
überzeugt bin, dass Sie ganz wunderbare Eltern sind und ihr Sohn etwas anderes braucht als Erziehungsmaßnahmen und Therapeutenbesuche.“

Wenn die Fragen das Problem sind…Elternbildung

Ich fahr fort: „Wissen Sie, manchmal sind die Fragen das Problem. Wenn Sie der Frage nachgehen, was Sie falsch gemacht haben und was Sie mit Ihrem Sohn machen können, werden Sie irgendwann Antworten auf genau diese Fragen finden. Sie werden vielleichtdenken, dass sie Ihrem Sohn nicht genügend Regeln und Grenzen gesetzt haben. In Verbindung mit der Frage, was Sie jetzt mit Ihrem Sohn machen können, werden Siemöglicherweise schlussfolgern, dass Sie die Zügel ab sofort anziehen müssen. Und DAS kann ich Ihnen geradezu versprechen: Das geht schief. Offensichtlich haben Sie Ihrem Sohn vierzehn Jahre lang vorgelebt, dass man NICHT alles mit sich machen lassen darf. Und genau das setzt er jetzt um. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben einen mental gesunden Sohn! Mit dem müssen Sie nichts machen. Ich vermute, dass mit ihm speziell in der Schule schon viel zuviel gemacht wird. Was Ihr Sohn gerade jetzt braucht, sind Eltern, die sich nicht verrückt machen lassen.“

„Was kann ich nur mit meinem unmöglichen Ehemann machen?“Elternbildung

Frau Müllers Gesichtszüge entspannen sich. Herr Müller hingegen verschränkt die Arme und meldet sich zu Wort: „Aber Finn muss doch lernen, dass man sich an Regeln zu halten hat und nicht immer alles auf die leichte Schulter nehmen darf.“ Ich: „Ich denke, dass Finn nicht alles auf die leichte Schulter nimmt. Ganz im Gegenteil. Gerade in der Schule ist es für einen vierzehnjähriger Teenager überhaupt nicht leicht, aufzustehen und JA zu sich selbst zusagen. Es ist mutig! Jugendliche fangen dann an, gegen Regeln zu verstoßen, wenn ihre eigenen, persönlichen Grenzen übergangen werden und sie immer wieder die Rückmeldung bekommen, dass sie anders sein sollen, als sie sind. Über Regelverstöße teilen Sie sich und ihre persönliche Integrität mit. Herr Müller, wie würde es Ihnen gehen, wenn mich Ihre Frau fragen würde, was sie nur mit Ihnen, dem unmöglichen Ehemann machen kann? Immer diese Widerworte! Welche Gefühle kämen in Ihnen hoch, wenn Ihre Frau schildern würde, dass Sie den Ernst der Lage nicht verstanden haben? Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Frau zu dem Schluss käme, dass sie in der letzten Zeit zu nachlässig war und ab sofort andere Saiten aufziehen muss?“

Unerhörte Schüler:innen sind unerhörte Schüler:innen.Elternbildung

Herr Müller grinst etwas gequält: „Oh Gott, hören Sie auf. Was für ein Alptraum! Aber ist das nicht etwas anderes?“ Nein, ist es nicht. Genauso wie Erwachsene haben auch Jugendliche eine persönliche Integrität. Zu dieser gehören ihre persönlichen Grenzen, Bedürfnisse, Gefühle, Werte, Wünsche usw. In Reaktion auf Integritätsverletzungen neigen manche Jugendliche – ähnlich
wie Erwachsene – dazu, sehr still zu werden und sich zurückzuziehen. Sie geben auf. Leider ist es an vielen Schulen noch immer so, dass Jugendliche genau dafür gelobt werden, dass sie (wieder) brav und folgsam sind. Andere Jugendliche wiederum sagen „Stopp! Bis hierhin und nicht weiter!“. Sie grenzen sich nicht unbedingt dadurch ab, dass sie zur Lehrerin gehen und
verkünden: „Frau Meier, haben Sie eigentlich schon bemerkt, dass ich mittlerweile vierzehn Jahre alt bin und nicht mehr bereit bin, alles mit mir machen zu lassen? Seit Jahren muss ich in kargen Unterrichtsräumen sitzen, Befehle befolgen und mich bewerten, kritisieren, korrigieren lassen. Und damit ist jetzt Schluss! Ich denke, Sie sollten sich mal mit dem Spannungsfeld aus Integrität und Kooperation ins Benehmen setzen. Ich empfehle das Buch `Vom Gehorsam zur Verantwortung` von Jesper Juul und Helle Jensen.“ Nein, das sagen Jugendliche natürlich nicht. Sie teilen sich und Ihr „Stopp!“ anders mit. Zum Beispiel indem sie ab und zu unfreundlich reagieren, ihr Basecap aufbehalten oder die Hausaufgaben „vergessen“. Alles kein Drama! Jedoch – und das muss ich sehr klar sagen – werden an etlichen Schulen entsprechende Verhaltensweisen nicht nur dramatisiert. Siewerden komplett missverstanden. Der Punkt ist: Wenn das „Stopp!“ der Jugendlichen nicht gehört wird und ihnen stattdessen mit (weiteren) integritätsverletzenden Konsequenzen gedroht wird, kann es passieren, dass sie noch deutlicher werden. Sie gehen auf die Barrikaden. In Weiterbildungen mit Lehrer:innen sage ich gerne. „Unerhörte Schüler: innen sind unerhörte Schüler:innen.“ Finns Eltern sind sehr nachdenklich geworden. Schließlich stellen sie die Frage, die einen echten Perspektivenwechsel einleiten kann. Sie lautet: „Und nun?“

Und nun?Elternbildung

Es gibt keinen Trick. Wenn Jugendliche Schwierigkeiten in und mit der Schule bekommen, müssen Eltern im Hier und Jetzt ankommen. Es bringt herzlich wenig, angestrengt darüber nachzudenken, was man als Eltern vermeintlich falsch gemacht hat. Das ist die Perspektive von „Rückspiegel-Expert:innen“. Auch halte ich es für nicht sonderlich erstrebenswert, über eine Zukunft nachzudenken, von der kein Mensch weiß, wie sie aussehen wird. Das, was Eltern proaktiv beeinflussen können, hat mit der Art und Weise zu tun, wie sie mit ihren Kindern JETZT in Beziehung gehen.

Wir sehen dich!Elternbildung

Ich schenke Finns Eltern einen weiteren Kaffee ein: „Wissen Sie, Ihr Sohn hat gerade das Problem, dass ihn seine Eltern und Lehrer:innen mit Sorgenfalten anschauen, ohne ihn – und das ist sehr entscheidend – zu sehen. Was Finn dringend benötigt, ist, dass gerade Sie ihn sehen. Wohlgemerkt auf der existenziellen und nicht auf der Schul- und Verhaltensweise. Viele unserer Schulen sind im wahrsten Sinne des Wortes bedrückende Orte. Da herrscht unglaublich viel Druck. Bitte lassen Sie sich von diesem Druck nicht vereinnahmen. Sie sind nicht der verlängerte Arm der Schule. Sie sind Finns Eltern. Ihr Sohn braucht Eltern, die speziell in schwierigen Zeiten bei sich sind, Ruhe ausstrahlen und Vertrauen aufbringen. Auf Knopfdruck geht das nicht. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung – meine Tochter ist sechzehn Jahre alt –, dass es hilfreich sein kann, über andere Fragen nachzudenken als `Was
machen wir mit unserem Kind, wenn es in der Schule…?` Stattdessen können Eltern mit ihrem Kind in einen echten, gleichwürdigen Dialog gehen. Sie können fragen: `Brauchst du unsere Unterstützung?`, `Wie geht es dir?` oder auch `Brauchst du mal eine Auszeit?`. Und wenn die Lehrer*innen sagen, dass sich Eltern um eine Therapie für ihr Kind kümmern müssen, können sie freundlich antworten: `Nein, das müssen wir nicht. Wissen Sie, wir haben in den letzten Monaten oft darüber nachgedacht, was wir mit unserem Kind machen können. Wir haben eine Antwort gefunden. Wir machen nichts, was in Richtung Therapie
oder Erziehungsmaßnahmen geht. Unser Kind mag in der Pubertät sein und nicht mehr alles abnicken, was die Lehrer:innen sagen. Aber wenn wir ehrlich sind, finden wir das ganz wunderbar. Wir haben unser Kind nicht zum Gehorsam erzogen. Wir werden mit unserem Kind sprechen, und genau das empfehlen wir ihnen auch.“

Macht man sich als Eltern nicht unbeliebt, wenn man sich gegenüber der Schule entsprechend äußert?“ Das mag sein. Jedoch kenne ich kein Gesetz, das Eltern verpflichtet, sich beliebt machen zu müssen.

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Andreas Reinke arbeitete ungefähr 16 Jahre lang als Lehrer an verschiedenen Grund- und weiterführenden Schulen. Vor dem Hintergrund seiner Praxiserfahrungen unterstützt er seit einigen Jahren Lehrer*innen und Schulen in Schulentwicklungs-Fragen. Dabei liegt ihm der Bereich der „Beziehungskompetenz“ besonders am Herzen. Beziehungskompetenz – so seine Überzeugung – beginnt an der Stelle, an der Lehrer*innen Verantwortung für sich und die eigenen Grenzen, Bedürfnisse und Werte usw. übernehmen. Da viele Lehrer*innen jeden Tag „außer sich“ sind und am Limit arbeiten, fällt es ihnen oft enorm schwer, mit Schüler*innen und Eltern in einen konstruktiven Dialog zu kommen. Über familylab (gegründet vom dänischen Familientherapeuten Jesper Juul) veröffentlichte Andreas Reinke seine beiden Bücher „Das wird Schule machen – Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrer“ und „VertrauensBildung – Wege aus der Schulangst“. Im Sommer 2022 erscheint sein neues Buch „Schulen des Miteinanders“ im Beltz-Verlag. Andreas Reinke gründete 2019 die Online-Plattform „relationSHIP“. Hier treffen sich Eltern und pädagogische Fachkräfte, um miteinander in den Dialog zu gehen. Nach seinen beiden Onlinekongressen „Die neuen Eltern – gleichwürdig und stark“ und „Die neuen Schulen – Lernen braucht Beziehung“ veranstaltet Andreas Reinke im Mai 2022 seinen dritten Kongress „Ziemlich beste Lehrer*innen – wertschätzend, echt, respektvoll“.

Für die Leser:innen von eltern-bildung.at hält Andreas Reinke folgendes Angebot bereit. Das Kongresspaket mit über 40 Interviews (u.a. mit Gerald Hüther, Jan-Uwe Rogge, Katia Saalfrank) können die Leser:innen von eltern-bildung.at zu einem stark vergünstigten Preisbekommen. Statt 297 € für 67 €. Dieses Angebot gilt bis zum 31.03.2022 und ist mit Hilfe des folgenden Links zu bekommen: https://bit.ly/36D6OzG


KommentareElternbildung

Das ist ein ganz wunderbarer Text, der mir selbst gerade unglaublich Druck rausnimmt. Aber wie geht es dann weiter aus Ihrer Erfahrung? Was verändert sich?


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