Die meisten Eltern kennen die Situation: Mein Kind fürchtet sich und vernünftige Erklärungen helfen nicht. Was kann ich als Mutter oder Vater also tun? Der erste Schritt, einem ängstlichen Kind zu helfen, kann sein, die Angst als das zu betrachten, was sie ist: Eine Riesen-Entwicklungschance!
Was ist Angst?
Angst ist ein angeborenes Gefühl, das zur emotionalen Grundausstattung des Menschen gehört. Komplexe Vorgänge im Gehirn und im Hormonsystem vesetzen den gesamten menschlichen Organismus in Alarmbereitschaft. Das zeigt sich in unterschiedlichen Symptomen: Beklemmung, Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch, Mundtrockenheit, Harndrang, Übelkeit oder Schlafstörungen. Natürlich wird Angst deshalb als unangenehm und störend empfunden, prinzipiell ist sie aber Bestandteil der gesunden seelischen Entwicklung. Sie schult den Menschen im Umgang mit Gefahren. Die Menschheit hätte sich ohne Angst nicht erfolgreich entwickeln können – wir wären längst ausgestorben. Außerdem fördert sie Entwicklungsprozesse. Wann immer man eine furchtauslösende Situation bewältigt hat, wächst die eigene Automie und das Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Welche Kinderängste gibt es?
Wir können zwei Kategorien von Kinderängsten unterscheiden:
1.) Umweltbedingte Ängste
Dabei handelt es sich um Ängste, die nicht in einer bestimmten Entwicklungsphase auftreten, sondern ausgelöst werden durch konkrete Ursachen im Umfeld des Kindes. Es kann sich um harmlose Auslöser handeln, wie die Geburt eines Geschwisterchens oder um schwerwiegendere Auslöser, wie ein familiäres Trauma, das sich unter Umständen nur durch therapeutische Hilfe bewältigen lässt. Lesen Sie dazu den Artikel (Kinderpsychologin)…
Bei den allermeisten Kinderängsten handelt es sich aber um
2.) Entwicklungsbedingte Ängste
Das sind Ängste, die jedes Kind im Laufe seiner Entwicklung in unterschiedlicher Intensität – je nach Temperament – erlebt. Sie treten typischerweise in einer bestimmten Entwicklungsphase auf und verschwinden meist von alleine wieder.
Kinder entwickeln sich in verschiedenen Bereichen oft in sehr unterschiedlichem Tempo. Die folgenden Altersangaben sind nur als ungefähre Richtlinien zu verstehen. Ängste die in einer Entwicklungsphase zu erwarten wären, aber erst später oder etwas früher auftauchen, sind ebenso normal wie scheinbar bereits bewältigte Kinderängste, die sich plötzlich wieder bemerkbar machen.
In den ersten zehn Lebenswochen sind Säuglinge vor Angst weitgehend geschützt. Reize dringen nur sehr gedämpft zu ihnen durch. Die ersten Ängste eines Neugeborenen werden durch plötzliche, laute Geräusche, durch Schmerz, Lichtblitze, Schatten oder das Gefühl zu fallen (Moro-Reflex) ausgelöst. Das Baby reagiert im Rahmen seiner Fähigkeiten: Es weint, wendet sich ab oder klammert sich fest.
Babys im Alter von 0 bis 6 Monaten müssen lernen, mit ihrer Umwelt und den Eindrücken, die auf sie einstürmen, zurechtzukommen. Oft reagieren sie mit Angst bei Reizüberflutung oder wenn auf ihre kindlichen Bedürfnisse nicht oder zu spät eingegangen wird. Durch ihre Sensibilität nehmen Babys die Atmosphäre in ihrer Umgebung wahr. Sie reagieren häufig auch ängstlich auf Spannungen in ihrer unmittelbaren Umgebung.
Mit etwa einem halben Jahr werden Babys zunehmend mobiler. Sie sitzen, beginnen zu krabbeln, lernen, sich hochzuziehen. Die neuen Perspektiven auf ihre Umwelt werden als reizvoll aber auch als befremdend erlebt. Erste Trennungsängste können sich entwickeln. Meist suchen Kinder in diesem Alter den schützenden Blickkontakt mit ihrer vertrauten Person, um sich immer wieder zu versichern: „Ich entferne mich vom sicheren Hafen – ist alles gut?“
Im Alter von etwa acht Monaten kommt es meist zum „Fremdeln“ – auch bekannt als Acht-Monats-Angst. Das Kind kann nun zwischen fremden und vertrauten Menschen unterscheiden, es fühlt sich in seiner vertrauten Umgebung sicher. Seine Bezugspersonen vermitteln ihm Halt und Orientierung. So weint das Kind plötzlich, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, Einschlafstörungen, Schlafstörungen können weitere Auswirkungen sein. Diese Phase im Leben des Babys ist ein Zeichen für gelungene Bindung.
Im zweiten Jahr versteht das Kind schon viel von dem, was es sieht und hört und vor manchem hat es Angst: vor dem Dunkeln, vor Alpträumen, Bösewichten aus der Gute-Nacht-Geschichte, vor fremden Dingen und Personen. Zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr erlebt sich das Kind außerdem immer mehr als eigene Persönlichkeit, es entdeckt sich als Individuum. Damit beginnt eine erste Loslösung von der Bezugsperson hinein in seine soziale Umwelt. Das Kind sucht in beängstigenden Situationen den Schutz des Erwachsenen, zieht sich zurück oder tritt die Flucht an. Oft kann es seine Angst auch schon mitteilen.
Ab dem dritten Lebensjahr tritt ein Kind in die magische Phase ein. Nichts ist unmöglich, also kann auch alles Mögliche an schrecklichen Dingen passieren. Der Weltuntergang in einer Stunde ist genauso wahrscheinlich wie eine Begegnung mit einem Monster, das unter dem Bett lauert. Dies kann von kindlichen Vernichtungsängsten begleitet sein, die oft an Urelemente gebunden (Blitz, Donner, Wasser, Feuer) aber auch an Fantasiewesen wie Geister, Monster, Hexen, Vampire oder ausgestorbene Tiere gebunden sind. Das Kind fürchtet sich außerdem oft vor realen Gefahren: Davor verletzt zu werden oder in einen Unfall zu geraten, zum Beispiel. Die Realangst ist eine Warnung vor echten Gefahren des Lebens. Sie ist für den Menschen ein wichtiger Begleiter durch das ganze Leben. Auch das Erleben von Ohnmacht seinen eigenen Gefühlen und Fähigkeiten und der Umwelt gegenüber („Trotzphase“) löst in diesem Alter häufig Ängste aus.
Im Alter von drei bis sechs Jahren leben oft die Trennungsängste durch den Eintritt in eine Kinderbetreuungseinrichtung sehr stark wieder auf. Das Kind muss sich nun von den Eltern trennen und ein Stück weit ablösen. Es wird mit vielen neuen Eindrücken und Wertvorstellungen konfrontiert und muss diese erst verarbeiten. Auch der Umgang mit anderen Kindern stellt eine Herausforderung für das Kind dar: die Sozialisationsangst kann jetzt auftreten. Das Kind hat Angst davor, mit fremden Personen in Kontakt zu treten. Es muss nun lernen Kompromisse einzugehen und seine eigene Bedürfnisbefriedigung zurückzustellen. Diese Ängste könnensich beispielsweise durch Einschlaf- und Durchschlafstörungen zeigen. Das Kind hat plötzlich Angst vor der Dunkelheit oder vor dem Alleinsein.
Im Alter von 5 bis 7 Jahren können die so genannten Todesängste auftreten. Das Kind wird durch den Tod von vetrauten Tieren oder Menschen mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert. Es kann sein, dass es dann schon bei geringen Anzeichen einer Krankheit oder einer kleinen Verletzung diese Todesbefürchtung erlebt. Auch medienbasierte Ängste treten in dieser Phase häufig auf. In dieser Alterstufe können potentiell bedrohliche Situationen oder Umstände schon gut wahrgenommen, aber in ihrer Stärke oft noch nicht richtig eingeordnet werden. Ein Vulkanausbruch am anderen Ende der Welt kann dem Kind eine schlaflose Nacht bereiten.
Im Grundschulalter kommt es häufig zu Versagensängsten. Kinder definieren ihren Selbstwert in dieser Zeit oft über ihre Leistungen. Dabei können schulische sowie sportliche Leistungen ebenso eine Rolle spielen wie besondere Talente oder Fähigkeiten. Die Vorstellung, in einem Bereich, der dem Kind wichtig erscheint, nicht bestehen zu können, kann enorm ängstigen.
Im Alter von 11 Jahren bis ins junge Erwachsenenalter geht der Fokus oft weg von Leistungen hin zu Gleichaltrigen. Der Freundeskreis spielt eine immer wichtigere Rolle, entsprechend treten oft Sozialisationsängste in den Vordergrund. Die Angst, von Alterskameraden abgelehnt zu werden, dominiert oft in den Jugendjahren.
Wahrscheinlich kommen Ihnen einige der beschriebenen Ängste bekannt vor – nicht nur aus Erfahrungen mit Ihren Kindern, sondern auch aus Erfahrungen in Ihrem eigenen Leben. Ängste begleiten uns also offenbar unser ganzes Leben lang, und das aus gutem Grund: Sie machen Entwicklung und persönliches Wachsen erst möglich!
Katrin Hofer
Psychotherapeutin (Psychoanalyse) arbeitet in ihrer freien Praxis in Wien und Amstetten mit Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Arbeit mit Schwangeren in der präventiven Methode „Bindungsanalyse“. Mehr dazu unter: www.psychotherapie-hofer.at
Wenn die Angst zu groß wird. Welche Anzeichen kann ich als Mutter/Vater beachten?
Angst kennen wir alle. Sie ist ein Überlebensinstinkt und gehört zur normalen Entwicklung eines jeden Kindes dazu. Doch was, wenn die Angst ein Übermaß annimmt, wenn das Kind darunter leidet und nicht selten auch die Eltern dadurch belastet sind?
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