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Lebendige Familien machen stark

von Dr. rer. nat. habil. Gabriele Haug-Schnabel

Elternbildung
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Lebendige Familien machen stark – das wissen wir aus vielen Forschungsprojekten.

Aber was ist eine lebendige Familie, und was von den in der Familie gemachten Erfahrungen macht stark? Lebendige Familien machen stark, wenn Groß und Klein Vielfältiges erleben kann, gemeinsam Pläne schmiedet und dafür kämpft, es sich zusammen gut gehen lässt und zusammen Alltagshürden nimmt. Aus der internationalen Suchtpräventionsforschung weiß man, dass besonders die Gestaltung der Abendstunden von Bedeutung ist, da alle schon einen langen Tag hinter sich haben und die Belastbarkeit abnimmt.

Vor vielen Jahren hat Jesper Juul in Bozen einen Vortrag gehalten, in dem er dafür plädierte, gerade die Abendstunden sehr bewusst zu gestalten, damit da Stärkendes passieren kann, was den zu Ende gehenden Tag in einem erinnerungswerten Licht erscheinen lässt und so zur Kraftreserve für den nächsten Tag wird. Hierfür braucht es am Abend eine Atmosphäre der Gemeinsamkeit, die höchst unterschiedlich gestaltet werden kann: Gespräche beim Ausräumen der Geschirrspülmaschine, beim Braten eines Spiegeleis, beim Wäsche aufhängen, beim Picknick auf dem Wohnzimmerteppich, weil es draußen stark regnet oder angeschmiegt im Kuschelsofa oder bei einem kleinen Spaziergang, um dem hausnahen Spielplatz „Gute Nacht – bis morgen“ zu wünschen.

Die Gesprächsthemen könnten sein:

  • „Wie war dein Tag, Liebling?“
  • „Wer hat sich heute in dich verliebt?“
  • „Wer wollte dich auf den Mond schießen?“
  • „Wen hättest du fressen können mit Stumpf und Stiel?“
  • „Was hast du dir heute mal gewünscht?“
  • „Was willst du mal lernen und gut können?“
  • „Was war wirklich toll?“

Ein guter Abend ist wichtig, weil die Zeit vor dem Zubettgehen anstrengend und erschöpfend für Familien sein kann. Auch, weil diese Zeit eine besondere Begleitung und altersgemäß mitwachsende Rituale braucht. Es handelt sich nämlich beim Übergang vom Wachen zum Schlafen um eine wichtige Mikrotransition. Mikrotransitionen, so sagt die Resilienzforschung, sind kleine Übergänge, aber große Herausforderungen für Kinder, die von uns Erwachsenen erkannt und gut begleitet werden müssen. Denn erst dann können wir sie den Kindern zumuten oder ihnen – genauer – zur eigenen Bewältigung übergeben. Der Psychologe Richard Emde hat bereits 1998 erkannt, dass ihr Erkennen im Kinderalltag und ihre Begleitung und Gestaltung durch die erwachsenen Bezugspersonen Einfluss auf den individuellen Entwicklungsverlauf eines Kindes nehmen.

Es gibt klare Anforderungen an Mikrotransitionen: Das Kind muss sich nach einem derartigen Übergang „am Stück, unversehrt“ auf der anderen Seite wiederfinden. Entscheidend ist aber, wie der Übergang von den Erwachsenen vorbereitet und begleitet wird. Eine Begleitung in Form körpersprachlicher und verbaler Mitregulation zur Stressdämpfung ist angesagt.

Kinder brauchen Vorhersagbarkeit. Sie brauchen aber auch Erfahrung im Umgang mit Unerwartetem. Sie haben ein Recht darauf, informiert zu werden, wenn sich im Tagesablauf etwas verändert und es so zu einem Wechsel im geplanten Geschehen kommt. Sie haben auch Anspruch auf eine zugewandte und kompetente Begleitung, die zum selbstständigen Handeln anleitet. Das ist wichtig, um eigene Gestaltungsmöglichkeiten im laufenden Geschehen, also Einflussnahme wahrnehmen zu können.

Altersgemäß mitwachsende Veränderungen in der Bindungsbeziehung sind die Voraussetzung für deren dauerhafte Tragfähigkeit. Das beginnt mit der feinfühligen Zuwendung, zeitnaher Beantwortung und körperlichen Verfügbarkeit bei Babys und geht beim Älterwerden hin zu einem sprachlichen Austausch und diskursoffener Kommunikation, die auch am Telefon möglich sein kann.

Feinfühliges Verhalten, das neben der anfänglich dominierenden Bindung und Exploration zunehmend auch die kindlichen Autonomiebedürfnisse respektiert, gilt heute in der Forschung als die wichtigste Voraussetzung für Selbstständigkeitsentwicklung während Kindheit und Jugend. Und das heißt, dass die Kinder zunehmend mehr selbstreguliertes, selbstwirksames Verhalten im Einklang mit den eigenen Zielen erleben und spüren. Zum Beispiel zunehmende Partizipation erleben, an immer mehr aktiv teilnehmen können, teilhaben am Geschehen, eine Stimme haben.

Prototyp einer Mikrotransition: Einstieg in Krippe oder Kindergarten

Das Prozedere für diesen Partizipationseinstieg ist die Eingewöhnung. Feinfühligkeit gegenüber den Bedürfnissen des Kindes ist ausschlaggebend für einen gelingenden Übergang von der Familie in Krippe oder Kindergarten. Verhaltensbeobachtungen zeigen, dass im Beisein eines Elternteils die meisten Kinder Krippen und Kindergärten interessant finden und vor allem die anderen Kinder – zumindest auf Abstand. Unter welchen Voraussetzungen verkraftet ein Kleinkind eine zeitweilige Trennung von seinen Hauptbindungspersonen und erlebt diese Stunden „außer Haus“ als Erfahrungserweiterung. Viel hängt von der Eltern-Kind-Begleitung ab und der von den Eltern signalisierten Freigabe, sich in der neuen Umgebung auch wohl fühlen zu dürfen. Für den in Krippe und Kindergarten anstehenden Beziehungsaufbau muss den Kindern ein positiver Umgang mit der veränderten Lebenssituation möglich gemacht werden, denn nur dann gelingt es ihnen, außer den Bindungen an ihre familiären Bindungspersonen nach und nach individualisierte Beziehungen in abgestufter Intensität auch zu Mitgliedern der erweiterten Sozialgruppe aufzubauen. Vielfach wurde beobachtet, dass es für alle weiteren Schritte entscheidend ist, ob Mutter und/oder Vater das Kind vertrauensvoll der neuen Bezugsperson übergeben und ob die neue Bezugsperson das gestresste Kind bei seinen Regulationsfähigkeiten unterstützt und ihm dadurch die Chance gibt, seine eigenen Bewältigungsstrategien einzusetzen. Eine behutsame Eingewöhnung kann das Kohärenzgefühl unterstützen. Das bedeutet: Ich erlebe meine Erfahrungen zusammen gehörend, längerfristig gesehen sogar stimmig. Es gelingt mir Situationen handzuhaben, d. h. auch mit Anpassungsstress klarzukommen und Bedeutsamkeit zu erleben. Erst das angekommene Kind zeigt Interesse, wodurch sich in guten Einrichtungen zeitnah in kognitiver und sprachlicher Hinsicht Entwicklungsfortschritte feststellen lassen. Dass diese Schritte auch das Kind beschäftigten, sieht man an folgendem Zitat: „Seit wann weine ich eigentlich nicht mehr?“

Griebel & Niesel sprechen (2013) davon, dass ein gut begleiteter Übergang die seelische Widerstandskraft eines Kindes stärken kann. Der herausfordernde Charakter der neuen Situation muss eine Zeitlang erhalten bleiben. Gleichzeitig muss durch Vertrautes und Verlässliches Überforderung vermieden werden. Die Kindheitspädagogin Dorothee Gutknecht hat in diesem Zusammenhang das Thema Aufbauen sogenannter „Scripts“ in den Blick genommen. Strukturierte, gemeinsame Handlungsabläufe, die ein Kind immer wieder erlebt und erkennt, führen zu inneren Repräsentationen in seinem sich entwickelnden Gehirn. Über Scripts werden drehbuchartig die Alltagserfahrungen des Kindes abgesichert und bewältigbar. Zumindest in den ersten Lebensjahren kann ein rhythmisierter Tagesablauf mit wiederkehrenden Kernelementen aufgrund seiner Vorhersagbarkeit hilfreich sein.

Routinen und Veränderungen sind wichtig. Alltägliche Routinen lassen einen Tagesablauf vertraut erscheinen. Das liegt daran, dass ihr Wiedererkennungswert hoch ist, was das Kind beruhigt, stärkt und ihm Sicherheit gibt. Aber ihr Bewältigungsanspruch und Kompetenzgewinn wird mit der Zeit zunehmend geringer, was langfristig ein Kind zu wenig fordert und ihm die Chance nimmt, auch mit gut begleiteten Veränderungen klarzukommen. Auf erste Irritationen folgen bei guter Assistenz stärkende Vertrautheits- und Sicherheitsgefühle auch in von der Regel abweichenden Situationen. Genau diese Bewältigungserfahrungen sind wichtige Aspekte der Stress- und Suchtprävention. „Die Ausnahme von der Regel bestätigt die Regel.“ Die Erwähnung einer expliziten Ausnahme lässt auf das Vorhandensein einer Regel, in den nicht von der Ausnahme betroffenen Fällen schließen. Also, ausnahmsweise länger aufbleiben dürfen, lässt die normale Zubettgehzeit zur Selbstverständlichkeit werden und lässt diese Ausnahme als besonders wertvoll einstufen!

Lebendige Familien machen stark, gilt das auch für das gemeinsame Essen?

Eine wichtige Frage, denn bei kaum einem Thema gibt es mehr Halbwissen, mehr Wanderlegenden, mehr moderne Mythen, mehr urban legends. Zum Beispiel: Vor einer Mahlzeit sollte man Kindern mindestens eine halbe Stunde zuvor nichts mehr zu trinken geben, stimmt nicht! Mehrere Studien weisen darauf hin, dass 15 oder 20 Minuten vor dem Essen ein Glas Wasser zu trinken, die Verdauung und den Appetit anregt. Tischgespräche beginnen früh, sogar bevor man sprechen kann. Unterschiedlich aber durchaus eindeutig, können Kinder durch Veränderung der Körperhaltung, durch Mimik, Gestik und Töne signalisieren: „Ich bin satt!“, „Ich bin hungrig!“ oder „Ich werde müde!“, aber auch „Ich fühle mich in dieser Tischrunde richtig wohl!“.

Selbstständige Nahrungsaufnahme und Nahrungsregulation sind äußerst wichtige Lernerfahrungen. Höchste Priorität hierbei hat: Selbst Erfahrung mit Hunger und Sättigung machen dürfen. Wissen, wie sich „hungrig“ anfühlt, wie sich „satt“ anfühlt, und zwar schon, bevor ich das Wort dafür kenne! Das Angebot Nahrung muss die individuellen tagesaktuellen Bedürfnisse beantworten.

Der Mediziner Herbert Renz-Polster weist in seinen Veröffentlichungen darauf hin, dass so genannte „Wenig-Ess-“ und „Viel-Ess“-Zeiten typisch für jedes Kind sind, genauso wie ein kurzfristiger Spezialhunger. Der Körper verlangt über seinen Feinregulator Appetit nach einem Stoff, der angesichts anstehender Stoffwechselaufgaben nicht ins Defizit geraten soll. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für kindliche Signale sind auch bei den Mahlzeiten von größter Bedeutung. Denn die Kinder wissen, wann sie Hunger haben und wann sie satt sind. Von sich aus werden sie weder übergewichtig, noch verhungern sie. Es sind ganz andere Ursachen, die ein Kind zu viel oder unzureichend essen lassen.

Essen dient der Deckung physiologischer wie sozialer Bedürfnisse

Mahlzeiten sind Gesprächszeiten höchster Priorität. Und das gilt schon für Esserfahrungen in den ersten Lebenswochen. Was muss in einem Säugling vorgehen, der bei jedem Schrei Brust oder Flasche in den Mund gesteckt bekommt, auch wenn er etwas anderes als Hunger signalisieren wollte? Zum Beispiel Wunsch nach Zuwendung oder Unterhaltung, Unwohlsein oder Unmut oder gar Angst? „Abspeisen“ bedeutet, dass durch eine Nahrungsgabe versucht wird, unterschiedliche Bedürfnisse mit einer einzigen Sorte Befriedigungsangebot zu beantworten. Hieraus kann sich die Gewohnheit entwickeln, bei Stress zu essen, da sich negative Gefühle wie Einsamkeit, Frustration oder Langeweile durch die sich beruhigend auswirkenden physiologischen Folgen der Nahrungsaufnahme zumindest kurzfristig beseitigen lassen. Aber genau hier setzt drohendes Suchtverhalten an. Denn durch diese Pauschalantwort kann gelernt werden, generell alle negativ besetzten Gefühlszustände mit Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme zu beantworten, weil andere Strategien, mit unangenehmen Gefühlen umzugehen, nicht zur Verfügung stehen.

In Sachen Essen gibt es ein evolutionäres Erbe. Wovon esse ich wann wieviel? Bis zum 6. Lebensmonat, wenn Kinder meist in der Nähe ihrer Mütter und deshalb in ihrem schützenden Blick sind, probieren sie fast alles, was ihnen gereicht wird. Beginnen die Kleinen krabbeln und zunehmend mobiler zu werden, startet die „sehr gesunde Neophobie“, nämlich die Angst vor Neuem. Kinder greifen dann bevorzugt nach Dingen, die sie schon kennen und verweigern die Aufnahme noch unbekannter Nahrungsmittel. Das bedeutet, dass bis zum zweiten Lebensjahr bei einzelnen Kindern das Essspektrum nun wirklich eingeschränkt ist. Dieses Verhalten kommt uns lästig vor, aber am Anfang der Menschheitsgeschichte war es äußerst wichtig, nicht alles was man beim Erkunden findet sofort in den Mund zu schieben. Die vorsichtigen Esser überlebten eher, was bedeutet, dass vor allem sie Nachkommen hatten, die eher vorsichtig waren und deshalb überlebten. Am Lebensanfang nicht zu experimentierfreudig zu sein, bedeutete seine „Vorsichtige-Esser-Gene“ in die nächste Generation zu bringen. Auch die Abneigung gegen grünes Gemüse und Bitterstoffe ist uns angeboren. Herbert Renz-Polster spricht von „Achtung, Grün!“ Hier handelt es sich um eine sogenannte genetisch bedingte aversive Verhaltensdisposition, die viele Kinder grüne Nahrungsmittel längere Zeit ablehnen lässt, weil in den grünen Pflanzenteilen besonders viele Gifte versteckt sein können, die Pflanze noch unreif ist oder von Bakterien befallen wurde. Diese evolutionären Überlebensstrategien machen sich auch heute noch bemerkbar.

Der Wunsch von Eltern oder ErzieherInnen, das Ess-Spektrum eines Ess- Spezialisten zu erweitern, ist nachvollziehbar. Aber Vorsicht, es kann gefährlich sein, probieren“ zu müssen. Auf gezeigte Abneigungen nicht zu achten, kann tatsächlich „schlummernde“ Allergien wecken und Unverträglichkeiten provozieren. Auch Aufessen-müssen, über den Hunger ohne Rücksicht auf Völle- und Ekelgefühle kann der Start in Ess-Süchte sein und rettet kein Kind in Afrika oder Asien vor dem Verhungern. Jesper Juul hat in seinem Buch „Was gibt´s heute? Gemeinsam Essen macht Familien stark“ (2002) darauf hingewiesen, dass Eltern in der Zeit, in der Kinder sehr eingeschränkt nur eine geringe Auswahl von Gerichten essen, oft auch nur diese kochen. Damit schränken sie aber das kindliche Geschmackserleben immer mehr ein, statt Neugier und geschmackliche Flexibilität zu fördern. Die Phase extremer Nahrungsspezialisierung geht umso schneller vorbei, je gelassener die Erwachsenen bleiben und je weniger sie sich abschrecken lassen, weiterhin Abwechslungsreiches anzubieten und es auch selbst zu essen.

Erziehungsmittel Vorbild, gilt das auch für das Essen? Aber ja!

Ein Vorbild wird nur dann akzeptiert, wenn dahinter eine funktionierende Beziehung steht, wenn das Vorbildverhalten auch vom Erwachsenen emotional positiv gesehen wird, das heißt, wenn der Vorbildgeber eindeutig von dem, was er anregt zu tun, auch selbst überzeugt und begeistert ist. Das ist auch der Grund, weshalb viele Träger von Kitas darauf achten, dass Mahlzeiten pädagogische Arbeitszeiten sind. Das bedeutet, dass die Mittagspause für die Fachkräfte davor oder danach eingeteilt wird, zumindest der pädagogische Happen sollte mitgegessen werden, da man dann als Essmodell dient. Und Ehrlichkeit ist wichtig: „Bohnen mag ich nicht so sehr, ich nehme mir nur von den Kartoffeln!“

Wie der Erwachsene dreinschaut und selbst vom gesunden Gemüse isst, während er die Speisen anbietet und anpreist ist ausschlaggebend, ob ein Kind zugreift. Gemeinsames Essen bedeutet, alle machen das so, ich auch, ich gehöre dazu. Außerdem die Erkenntnis, man traut mir zu, dabei zu sein, ich kann schon! Deswegen ist es so wichtig, dass alle Schritte, die ein Kind selbstständig ausführen kann, es auch alleine tun darf mit wohl ausgewählten, funktionsgerechten Hilfsmitteln. Natürlich bekommt das Kind Unterstützung, wenn es diese braucht oder anfordert. Es ist ein gutes Gefühl zu merken, sich selbst versorgen zu können, zum Beispiel am Frühstücksbuffet wählen und selbst zugreifen zu dürfen. Beobachtungen in Krippen zeigen, wie wichtig es Kindern ist, etwas selbst zu tun: Vom Rohkost- und Käseteller wählen, sich eingießen dürfen (was man mit unterschiedlichsten Gefäßen im Garten vorab üben kann!), sich selbst auftun, mit für kleine Hände und kleine Happen geeignetem Echt-Besteck essen können. Und wissen, wo all das zu finden ist: hier geht es um Handhabbarkeit, ein wichtiger Teil des Kohärenzgefühls.

Fast hätte ich es vergessen: Sich selbst anziehen können! Unkomplizierte, leicht handhabbare Kleidungsstücke können Kinder sich allein anziehen und damit Selbstwirksamkeit erleben.

Von wegen „Kinder bei Tisch, stumm wie ein Fisch“

Mimik und Gestik der Kinder sollten beantwortet werden und natürlich auch Gespräche angeleitet und unterstützt werden. Mahlzeiten sind Chancen für Kommunikation, die genutzt werden sollten. Zu häufig wird nur das Nötigste gesprochen, um den Essensablauf zu organisieren.

  • „Willst Du noch etwas trinken?“
  • „Gib‘ dem Tobias auch von dem Tee!“
  • „Maria, Du hast schon zweimal gehabt!“

Stattdessen nach dem ersten Stillen des Heißhungers ein Gespräch anregen: „Wer mag erzählen, was er gestern zuhause gemacht hat?“, „Wisst ihr noch, wie Luisa sich heute Morgen getraut hat, an der Sprossenwand ganz hoch zu klettern?“, „Wer hat nachher Lust mit Rasierschaum im Garten zu modellieren?“

Oder einfach nur die Kommunikationsversuche der Kinder untereinander unterstützen und gegenseitiges Interesse spiegeln.

Im Gespräch der Kinder untereinander kann sich der selbstverständliche und wertschätzende Umgang mit Unterschieden ablesen lassen – vorausgesetzt die Erwachsenen leben ihn vor: Ben und Darian sitzen in der Kita am Frühstückstisch. Auf dem gedeckten Tisch steht neben dem Brotkorb eine Platte mit Rohkost, Käsestückchen und Wurstscheiben. Darian greift zu Rohkost und Käse. Ben deutet auf den Wurstteller und fragt: „Isst Du das nicht wegen Gott oder wegen Krankheit?“

Darian antwortet: „Ich mag es nicht!“ Ben nickt und das Gespräch geht über Spielaktionen am Morgen weiter.

In seinem Buch „Was gibt‘s heute?“ schreibt Jesper Juul Tischmanieren für Eltern

  • Konfliktgespräche zwischen den Erwachsenen sind bei Tisch verboten, da sich das Kind diesen nicht entziehen kann.
  • Rumerziehen und Kritisieren des Kindes bei Tisch ist tabu; unter Dauerbeobachtung verschwinden die Lust und der Genuss am Essen.
  • Man muss etwas nicht mögen dürfen, ohne die Harmonie zu gefährden und Koch oder Köchin zu beleidigen.
  • Gespräche sind erwünscht, besonders wenn darauf geachtet wird, dass alle zu Wort kommen.
  • Essensregeln und Vitaminen darf nicht mehr Bedeutung beigemessen werden als dem Wohlergehen aller, die um den Tisch sitzen. Die dauernde Sorge um die Gesundheit kann die Stimmung ungesund werden lassen.

„Selbstbestimmtes Essen“ – Bundesnetzwerk Kinder bis 3, Freiburg 20.3.2014

Eine Gebotsliste für Mahlzeiten im Krippenalter:

  • Kind nennt, was es trinken möchte und bekommt Getränk im Glas, damit es Inhalt und Füllstand erkennen kann.
  • Kind bekommt Speisen gezeigt und wird gefragt, was es essen möchte. Verbal, mimisch oder gestisch gewählte Auswahl wird respektiert, auch beim Nachholen wird Wahl respektiert.
  • Kind bekommt Essen in Glasschale mit hohem Rand oder auf einem Teller und wählt sein Besteck.
  • Kind muss keine Speise probieren und auch nichts aufessen. Es kann aber etwas von einer Speise, die es mag nachbekommen, auch wenn es noch Essensreste von etwas, das es nicht mag, auf dem Teller hat, die es nicht aufessen möchte.
  • Das Kind bestimmt die Speisen, die Reihenfolge und Menge seiner Mahlzeit: es kann auch den Nachtisch zuerst oder ausschließlich essen. Falls ein Kind beim Angebot nichts Passendes findet, darf es sich ein Brot holen.
  • Alle Schritte, die ein Kind selbstständig ausführen kann, tut es alleine, es bekommt aber Unterstützung, wenn es sie braucht.

Esstisch – Stresstisch?

Übrigens: Eltern und Kinder können vor Mahlzeiten Angst haben. „Ich habe keinen Hunger!“, „Ich möchte das nicht essen. Ich mag das nicht!“ sind klare Ansagen, auch wenn das Kind es nur durch Körpersprache und Mimik signalisiert, weil es noch nicht sprechen kann oder unsere Sprache nicht spricht. Natürlich darf man trotzdem am Tisch bleiben und sich am Gespräch beteiligen ohne weitere Angebotsversuche. Falls das Kind dann doch noch zugreift, ist kein Kommentar nötig, auch kein mimischer.

 

Literatur:

Emde, R. M. (1998). Early Emotional Development: New Modes of Thinking for Research and Intervention. Pediatrics 102 (5), 1236-1243.

Gutknecht, D. (2012). Bildung in der Kinderkrippe. Wege zur Professionellen Responsivität. Stuttgart: Kohlhammer.

Gutknecht, D., Höhn, K. (2017). Essen in der Kinderkrippe. Achtsame und konkrete Gestaltungsmöglichkeiten. Freiburg: Herder.

Haug-Schnabel, G., Schmid-Steinbrunner, B. (2015). Stark von Anfang an – Kinder auf dem Weg zur Resilienz begleiten. Aktualisierte Neuauflage. München: Oberstebrink.

Jesper, J. (2002). Was gibt‘s heute? Gemeinsam Essen macht Familien stark. Düsseldorf: Walter.

Renz-Polster, H. (2009). Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. München: Kösel-Verlag.

Renz-Polster, H. (2011). Meine Suppe ess ich nicht! Gehirn & Geist (6), 32-37.


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